Amalgam-Informationen

Alfred Stock
Die chronische Quecksilber- und Amalgamvergiftung
aus: Archiv für Gewerbepathologie und Gewerbehygiene, Band 7, Ausgabe 3, Seite 388 (1936)

Zusammenfassung

Die vorstehende Mitteilung behandelt:

 

Die wesentlichsten Feststellungen bezüglich der weitverbreiteten (in medizinischem Sinne) leichten Quecksilbervergiftung sind:

Die Vergiftung wird hauptsächlich durch den eingeatmeten Quecksilberdampf hervorgerufen. Die gleiche Menge Quecksilber wirkt eingeatmet viel schädlicher als durch den Verdauungsweg eingeführt. Die Hauptrolle spielt dabei das in der Nase festgehaltene Quecksilber. Die Störungen pflanzen sich augenscheinlich von der Nase in die benachbarten Hirnteile fort, die dadurch zum Sitz der nervös-psychischen Beschwerden werden. Während die Entstehung der Vergiftung stärkere Quecksilbereinwirkung verlangt, führt die länger dauernde Quecksilbervergiftung zu einer Überempfindlichkeit, die so weit gehen kann, daß schon einige zehntel µ Quecksilber im Kubikmeter Luft die typischen Vergiftungserscheinungen auslösen.

Die Diagnose der Vergiftung muß sich in erster Linie auf den klinischen Befund und den Nachweis der Zuführung von Quecksilberdampf stützen. Der Quecksilbergehalt der Ausscheidungen erlaubt selten eine eindeutige Entscheidung.

Die Untersuchungen sollen, in Zusammenarbeit mit Medizinern, fortgesetzt werden. Man darf Ergebnisse erwarten, die auch für die allgemeine Medizin, insbesondere für die Erforschung der Giftwirkungen von Wert sind.

Der I. G. Farbenindustrie A. G. und der Schering-Kahlbaum A. G. sei auch an dieser Stelle für die Unterstützung unserer Arbeiten bestens gedankt.

 


 

1. Arten der Quecksilbervergiftung.

Hier soll nur die "leichte" chronische Quecksilbervergiftung behandelt werden, deren Erscheinungen überwiegend "nervös-psychischer" Art sind und welche die große Mehrzahl aller Vergiftungsfälle umfaßt, und zwar nur die Vergiftung durch eingeatmeten Quecksilberdampf. Aufnahme von Quecksilber durch die Atmungswege wirkt ungeheuer viel schädlicher als Einführung derselben Menge durch die Verdauungswege. Das haben wir immer wieder feststellen können. Ähnliches gilt augenscheinlich auch für manche andere Gifte. F. Flury schrieb kürzlich in einem Aufsatz*1, der auch unsere Untersuchungen über die Quecksilbervergiftung berücksichtigte: <Es steht heute fest, daß weitaus die meisten Vergiftungen auf dem Wege der Einatmung erfolgen, nicht nur durch Gase und Dämpfe, sondern auch durch .... Staub, Nebel, Rauch und dgl. ... Verteilungsmechanismus im Körper ein ganz anderer als bei Aufnahme in den Magen ... ohne weiteres in den Blutkreislauf ... , ohne durch die Barriere der Leber abgefangen ... zu werden ... . Eingeatmete Metalle und Metallverbindungen sind jedenfalls viel gefährlicher als gleiche Mengen von verschluckten>.

Das Quecksilber ist ein ausgesprochenes "Atemgift". Es wird unten gezeigt werden, wie es unmittelbar auf die Atmungsorgane wirkt, ohne in den Kreislauf zu gelangen.

Die starke, mit allgemeinen Gesundheitsstörungen verbundene, gelegentlich tödlich endende chronische Quecksilbervergiftung, die Kußmaul in einem seinerzeit aufsehenerregenden Werke beschrieb*2 und die vor allem in den Spiegelfabriken heimisch war, ist dank den hygienischen Fortschritten unserer Zeit fast verschwunden. Um so mehr hat sich infolge der dauernd zunehmenden Benutzung des Quecksilbers die leichte Quecksilbervergiftung ausgebreitet. Gewerbliche Vergiftungen finden sich auch heute noch z.B. in den Quecksilberminen, in Fabriken von Quecksilberlampen, -gleichrichtern und dgl., von Haarfilz, bei Thermometermachern usw. In der deutschen Industrie sind sie erfreulicherweise recht selten geworden. Näheres enthält das vor einigen Jahren erschienene Werk von E. W. Baader und E. Holstein, ". Das Quecksilber, seine Gewinnung, technische Verwendung und Giftwirkung, mit eingehender Darstellung der gewerblichen Quecksilbervergiftung, nebst Therapie und Prophylaxe" (Berlin 1933, 239 S.), das wir (als "B.-H.") häufig zitieren werden.

Im folgenden soll "Quecksilbervergiftung", wenn nichts anderes gesagt ist, immer die sog. leichte Vergiftung bedeuten.


*1 "Atemgifte der Metallreihe", Chem. Fabrik 8, 235 (1935). Vgl. auch H. Zangger: "Irrtümer der Vergiftungsdiagnose" Leipzig 1924

*2 "Untersuchungen über den konstitutionellen Merkurialismus und sein Verhältnis zur konstitutionellen Syphilis". Würzburg 1861.


 

2. Quellen der Quecksilbervergiftung.

Das Quecksilber ist ein besonders starkes Gift. Es wirkt in gewissen Fällen schon in der Größenordnung des µ (1/1000 mg) auf den Menschen schädlich und übertrifft hierin wohl sämtliche bekannten, jedenfalls alle anderen metallischen Gifte (z. B. Blei und Thallium) bei weitem. Und es ist ein besonders tückisches Gift. Die flüssige Form begünstigt das Verschütten und die Verteilung in feinste, weit rollende Kügelchen. Die Flüchtigkeit, durch die es sich ebenfalls von allen anderen Metallen unterscheidet, erhöht seine Gefährlichkeit außerordentlich. Unwahrnehmbar verbreitet es sich als Dampf. Dabei erfordert die vollständige Verflüchtigung wegen der niedrigen Tension, die bei Zimmertemperatur nur 1/1000mm beträgt, auch bei kleinen Quecksilbermengen äußerst lange Zeit. Entgegen einer verbreiteten Annahme verdampft das Quecksilber auch durch zentimeterhohe Schichten von Wasser, Kohlenwasserstoffen und anderen Flüssigkeiten hindurch ziemlich rasch20.

Diesen unerfreulichen Eigenschaften stehen andererseits - leider ! muß man sagen - so wertvolle gegenüber, Beständigkeit gegenüber Luft und vielen Chemikalien, hohe Dichte und elektrische Leitfähigkeit, die flüssige Form, auch die katalytische Wirksamkeit, daß sich das Quecksilber für die verschiedensten Zwecke empfiehlt und vielfach unersetzlich ist. Es sei erinnert an Quecksilberbarometer, -Manometer, -Thermometer, -Kontakte, -Dichtungen, -Dampflampen (,,Höhensonnen"), -Gleichrichter, -Blutdruckmesser, -Gasanalysenapparate, -Reklameleuchtröhren, an die Acetaldehydsynthese mit Acetylen usw. Immer neue Verwendungsarten tauchen auf, wie die in Amerika entwickelte, Riesenmengen Quecksilber erfordernde Quecksilberdampfmaschine oder die Amalgamdruckverfahren (Pantone, Renk), die in gesundheitlicher Beziehung höchst bedenklich erscheinen müssen (vgl. B.-H., S. 30).

Wo mit Quecksilber gearbeitet wird, sind auch bei größter Vorsicht Unfälle und Verspritzen des Metalles nicht zu vermeiden. So sehen sich zahlreiche Personen der Möglichkeit einer Quecksilbervergiftung ausgesetzt: neben den gewerblichen Arbeitern, die im allgemeinen durch gewerbehygienische Maßnahmen gut geschützt sind, Physiker, Chemiker, Ärzte, Zahnärzte (Arbeiten mit Amalgam), naturwissenschaftliche Schullehrer usw.

Aber auch mancher, der beruflich nichts mit Quecksilber zu tun hat, wird von der Quecksilbervergiftung bedroht. In erster Linie sind die Amalgamzahnfüllungen zu nennen. Die alten Amalgamspiegel können, wenn sie nicht dicht genug abgedeckt sind, Quecksilber abgeben. Zerbrochene Fieberthermometer oder Höhensonnen machen die Luft von Schlaf- und Wohnräumen, auch von Krankenhäusern quecksilberhaltig. Mit der Kleidung, die bei Arbeiten in quecksilberverseuchten Räumen getragen wurde*1, wird Quecksilber in Wohnungen eingeschleppt.

Hier müssen auch die Haarfilzhüte erwähnt werden, die bei quecksilberempfindlichen Menschen ebenfalls Beschwerden hervorrufen können. Zur Filzherstellung aus Kaninchenhaar usw. dient eine aus Quecksilber und Salpetersäure gewonnene "Beize"*2. Ein Haarfilzhut enthält 1-2g Quecksilber, überwiegend in chemisch gebundener Form. Fabrikneue Hüte geben daher an die Luft nur geringe Mengen Quecksilberdampf ab; wir fanden (Versuche von F. Cucuel und A. Kreyer) bei Zimmertemperatur 1/2-2 1/2µ Hg/100 l Luft; in einem großen Hutgeschäft enthielt die Luft 1,7µ Hg im Kubikmeter. Im Lichte erfolgt Reduktion des gebundenen Quecksilbers zu Metall, und die Menge des sich verflüchtigenden Quecksilbers kann bei getragenen Hüten sehr steigen: nach unseren Versuchen bis zu 60µ Hg/100 l Luft*3. Setzt man einen solchen Hut der Einwirkung von Schwefelwasserstoff aus, so überzieht er sich mit glitzernden Kryställchen von Quecksilbersulfid. Übrigens schadet das von den Hüten verdampfende Quecksilber nicht demjenigen, der den Hut auf dem Kopf trägt (dauernder aufsteigender Luftstrom); dagegen kann es schädlich wirken, wenn man längere Zeit mit dem Hute auf den Knien sitzt oder in kleinem Raume (z B. im ungelüfteten Eisenbahnabteil) mit solchen Hüten zusammen ist. Wollfilzhüte sind quecksilberfrei.

Auch durch dichten Tabakrauch können erhebliche Mengen Quecksilber in die Luft gelangen. Wir fanden in einzelnen Zigaretten 0,4µ Quecksilber. In den Mund des Rauchers selbst kommt davon übrigens nichts.

Ein grober Unfug ist es, wenn Geduldspiele mit Quecksilberkugeln in den Handel gebracht werden oder Ungeziefervertilgungsmittel ("Quecksilberkreide"), welche zu einem Drittel aus Quecksilber bestehen (B.-H., S 25).

Auch die Dämpfe des Sublimats, das als Desinfektions- und Holzimprägnierungsmittel viel benutzt wird, können Quecksilbervergiftungen verursachen, obwohl die Flüchtigkeit des Quecksilber-II-Chlorids nur 1/1000 von derjenigen des Metalles ist. Mir sind mehrere solche Fälle bekannt geworden.

Die vielumstrittene Frage, bei welchem Quecksilbergehalt die Luft gesundheitsschädlich wird, läßt sich jetzt auf Grund des umfangreichen Beobachtungsmaterials mit Sicherheit beantworten:

Bis etwa 3µ Hg in 1 cbm Luft treten, sofern noch keine Überempfindlichkeit vorliegt*4 , auch bei jahrelangem Arbeiten in den betreffenden Räumen keine nennenswerten Beschwerden auf. Bei längerem Aufenthalt, z. B. täglich mehrere Stunden einige Wochen hindurch, in Räumen mit 10-20µ Hg/cbm Luft erkrankt die große Mehrzahl der dort Arbeitenden deutlich mit nervösen und körperlichen Erscheinungen*5. Noch höhere Quecksilbergehalte, wie sie in alten Laboratorien vorkommen*6, wirken entsprechend schneller. Auch diese Quecksilbermengen sind nur ein kleiner Bruchteil derjenigen, welche die Luft bei Sättigung mit Quecksilberdampf aufnehmen kann (bei Zimmertemperatur etwa 15000 µg Hg/cbm). Die viel höheren Schätzungen der Quecksilberschädlichkeitsgrenze im älteren Schrifttum (vgl.6) sind falsch.


*1 Die verschiedensten Stoffe absorbieren Quecksilberdampf (vgl.20).

*2 Vgl. B.-H., S. 39f.

*3 Einzelheiten werden in der demnächst erscheinenden Dissertation von A. Kreyer (Technische Hochschule Karlsruhe) mitgeteilt werden.

*4 Bei der schon der 10. Teil ungünstig wirken kann.

*5 Vgl. die Feststellungen des Landesgewerbearztes Prof. Dr. med. Holtzmann: Zbl. Gewerbehyg. 16, H. 1 (1929)9. Der Verfasser kommt zu dem Schluß: "Die Disposition zur Erkrankung ist, wenn auch individuell verschieden, so doch im ganzen recht verbreitet."

*6 Wir fanden beispielsweise in einer auswärtigen Schule vor der Sanierung im Chemieübungsraum 65 µ, im Vorbereitungsraum 125 µ, im Hörsaal 290 µ Hg je Kubikmeter Luft. Es war kein Wunder, daß die dort tätigen Lehrer an Quecksilbervergiftung litten.

 


 

3. Die Erscheinungen der Quecksilbervergiftung*1

Die Erscheinungen der Quecksilbervergiftung hängen weitgehend von der Intensität der Quecksilbereinwirkung ab. Steigt diese, so verstärken sich nicht nur die Symptome, sondern es treten auch neue hinzu. Es ist überraschend, wie weitgehend die Krankheitsbilder bei allen Patienten übereinstimmen.

Man kann etwa 3 Stufen unterscheiden, die natürlich ohne scharfe Grenzen ineinander übergehen.

Erste Stufe, mit fast nur nervös-psychischen Symptomen: Mattigkeit, verminderte geistige Arbeitskraft und Arbeitslust, leichte Nervosität ("Kribbeligkeit"). - Leichte (oft übersehene) Schwellung der Schleimhaut der oberen Nase.

Zweite Stufe: Verstärkte Müdigkeit, verringertes Aufnahme-, Erinnerungs- und Denkvermögen (Gefühl der "Verdummung"), schlechtes Gedächtnis besonders für Zahlen, Namen und Personen; innere Unruhe, Gereiztheit, Mißmut, Kopfdruck und Kopfschmerz zwischen den Augen, Benommenheit, leichtes Schwindelgefühl. Stärkere Schleimhautschwellung der Nase ("verstopfte" und "trockene" Nase), Nasenkatarrh mit zähem, manchmal leicht blutigem Schleim, Ohrensummen, leichte Halsentzündungen; Entzündungen der Mundschleimhaut und des Zahnfleisches (Wülste an den Zähnen), leichtes Bluten beim Zähneputzen. - Herzunruhe. Vereinzelte Durchfälle. Leichter Tremor. Gesteigerter Harndrang.

Dritte Stufe: Quälende Kopfschmerzen, Schwindel, leichte Sehstörungen; Versprechen, Verschreiben; äußerst verminderte geistige Arbeitsfähigkeit, fast völlige Gedächtnislosigkeit (Gefühl beginnender "Verblödung"); schwere Niedergeschlagenheit, Menschenscheu. Dauernde eitrige, oft blutige Nasenkatarrhe mit starker Schorfbildung, Hals- und Mandelentzündungen; Herabsetzung des Riechvermögens, Schwerhörigkeit, Ohrensausen; Bläschen und kleine Geschwüre an Gaumen, Mundhöhle, Lippen; Zahnfleischbluten schon bei schwacher Berührung, Zahntaschen und Lockerung von Zähnen (Paradentose), starker Speichelfluß.

Alles dies ist, wie nochmals betont sei, die im medizinischen Sinne leichte Quecksilbervergiftung.

An häufigeren Begleiterscheinungen seien noch genannt: Nebenhöhlenentzündungen, Zahnwurzelerkrankungen (Granulome), Nierenstörungen, Hautausschläge besonders an den weicheren Teilen der Arme und Beine. Nicht selten wird über sexuelle Störungen geklagt. Nach Fleischmann zeigt auch das Blut oft Veränderungen (Lymphocytose). Äußeres Aussehen und Körpergewicht leiden in der Regel wenig.

Ist die Quecksilberzufuhr dauernd schwach, so vergrößern sich auch die Beschwerden im ganzen nicht; eine erheblichere Steigerung der Wirkung findet nicht statt, so daß es bei "chronischer" leichter Benommenheit und "chronischem" leichtem Katarrh bleibt.

Wird die weitere Quecksilberaufnahme unterbunden, so verschwinden die Beschwerden langsam etwa in umgekehrter Folge.

Wie schon His hervorhob, sind die einzelnen Symptome der Quecksilbervergiftung sehr wenig charakteristisch. Die Patienten befinden sich, wenn sie überhaupt einen Arzt aufsuchen, meist in den Händen von Nasenärzten oder Nervenärzten, die in den seltensten Fällen an das Vorliegen einer Quecksilbervergiftung denken. Die leichtesten Formen der Quecksilberwirkung werden von den Betroffenen gewöhnlich nicht als Krankheit empfunden, sondern als Überarbeitung, Alterserscheinungen, "Nervosität" gedeutet und hingenommen.

Für den geistig Tätigen wiegen die "nervös-psychischen" Störungen am schwersten. Man hat das Gefühl, "ein Brett vor dem Kopf" zu haben, und ist unfähig einem Buch, einem Vortrag, einem Theaterstück mit Verständnis zu folgen. Das eigene Denken wird nicht in demselben niederdrückenden Maße beeinträchtigt, wenn es auch an Beweglichkeit, Schlagfertigkeit, Ausdrucksfähigkeit stark einbüßt.

Ein trefflicher Zeuge für die subjektiven Wirkungen der Quecksilbervergiftung ist Wilhelm Ostwald. Er schildert selbst*2 anschaulich, was er während seiner Laboratoriumstätigkeit durchmachen mußte, ohne daß er damals die Ursache ahnte. Er schrieb mir 1928, nachdem er meine Veröffentlichungen über die Quecksilbervergiftung gelesen hatte:

"Jene ernstliche Erkrankung von 1895 mit fast ausschließlich psychischen Symptomen scheint mir nachträglich recht deutlich auf eine Quecksilbervergiftung hinzudeuten." Er fügte hinzu: "In dem alten Laboratorium gab es nur Bretterfußböden, in denen zweifellos große Mengen Quecksilber verborgen waren, denn wir benutzten das Metall zu allen möglichen Zwecken und gingen ohne Vorsicht damit um." Als er einige Jahre später einmal nach Karlsruhe kam, sagte er mir, er sei jetzt sicher, daß es sich bei ihm um eine Quecksilbervergiftung gehandelt habe. Ostwald gab seine chemische Tätigkeit bekanntlich ganz auf und widmete sich ausschließlich Arbeiten über Naturphilosophie und Farbenlehre. Er kam bald wieder in den vollen Besitz seiner außerordentlichen geistigen Leistungsfähigkeit. da es sich hier um die besonders eindrucksvolle Selbstschilderung eines sich mit wissenschaftlichem Blick beobachtenden Opfers des Merkurius handelt, seien einige aus Ostwalds Buch herausgegriffene Stellen wörtlich angeführt: " ... Deutliche Erschöpfungserscheinungen ... ich hatte das Gefühl, als hätte ich ,Watte im Kopf' d. h. das gewohnte selbsttätige Angehen meiner Denkmaschine ... trat nicht mehr so glatt ein, wie ich es gewohnt war ... in der folgenden Zeit ergriff mich das Gefühl der Ermüdung nicht erst am Ende des Semesters, sondern ich hatte darunter nicht selten während der Arbeitszeit zu leiden .... Auch ein anderes Zeichen der Erschöpfung machte sich geltend: Ich begann gelegentlich über meinen Zustand mich klagend auszusprechen, während ich ihn bisher wie eine Sache, deren man sich schämen muß, für mich behalten hatte ... Einen erheblichen Verlust mußte ich bezüglich meines Gedächtnisses feststellen. Dies war früher ungewöhnlich gut gewesen.... Wenn ich längere mathematische Abhandlungen an der Tafel zu entwickeln hatte, verlor ich leicht den Faden ... eine eigentümliche Art von ... geistiger Blindheit, deren Ursache ich nicht habe entdecken können ... auch bei Ableitungen ... , die ich selbst entdeckt oder gefunden hatte, die ich also durch und durch kannte ... . Da solche Zustände ... häufig waren, so wurde mir die Vorlesung ... zunehmend durch solche peinliche Störungen verleidet".

Gewissermaßen als Trost für diese "bis zur Depression gesteigerten" Zustände suchte Ostwald nach ähnlichen historischen Beispielen. Er fand sie in Wöhler und Liebig. Hören wir ihn wieder selbst: "Wöhler schrieb mit 46 Jahren an Liebig: "Also auch Du bist so müde ... Es ist mir dies ein ordentlicher Trost. Du glaubst nicht, wie müde ich bin, wie satt ich die Chemie habe ... Sind wir denn schon so alt, oder was ist los? Diese nervenschwächende Wirkung muß wirklich der Chemie eigentümlich sein. Ich glaube, die materiellen Influenzen, die Dämpfe Gerüche und all die Teufelsstinkereien haben großen Anteil daran. Besonders ist es das Praktikum, was einen so herunterbringt'. Im gleichen Alter schrieb Liebig: ,Seitdem ich wieder in Gießen bin, geht es mir wieder recht miserabel. Anderwärts bin ich gesund, ich schlafe und kann essen, was ich Lust habe, und alles dies verschwindet, sobald ich das Arbeitszimmer oder das Laboratorium betrete; ... die Beschäftigung mit den jungen Leuten, die sonst meine Freude war, ist mir eine wahre Pein; eine Frage oder Auskunft macht mich ganz elend' ..."

Ostwald traf gewiß das Richtige, wenn er Liebig und Wöhler als seine Leidensgenossen ansah. Daß auch andere Große der Wissenschaft, Pascal, Berzelius, Heinrich Hertz*3 so gut wie sicher unter dem Quecksilber gelitten haben, erwähnte ich bereits früher6. Dasselbe gilt für Faraday1, dessen Wohnung und Laboratorium unter einem Dache lagen und dessen lange, früher als rätselhaft bezeichnete Krankheit alle Zeichen der Quecksilbervergiftung aufweist: Mattigkeit, Reizbarkeit, Kopfschmerz, Gedächtnisschwäche, Menschenscheu*4.


*1 Vgl. hierzu die Berichte über meine eigene Erkrankung1, sowie 4 6 und24. Stärkere Durchfälle. Häufiger Harndrang bei verkleinerter Harnmenge. Schmerzen in der Kreuzgegend. Herzdruck. Schwerer, wenig erholender Schlaf. Stärkerer Tremor.

*2 Lebenslinien, Bd. 2. Berlin 1927.

*3 In dessen Karlsruher Laboratorium beim Umbau das Quecksilber kilogrammweise im Fußboden gefunden wurde.

*4 Vgl. die kleine Biographie von Th. Martin (London 1934).

 


 

4. Die Quecksilberbestimmung

Im Laufe unserer Untersuchungen erwies es sich als nötig, die analytischen Verfahren mehr und mehr zu verfeinern, so daß sie noch die zuverlässige Bestimmung von hundertsteln µ Quecksilber erlaubten.

Anfangs2 3 5 bestimmten wir das Quecksilber in Anlehnung an ein schon 1908 von Ménière angegebenes Verfahren colorimetrisch mit Diphenylcarbazon. Organische Substanzen wurden zunächst mit Chlor und Wasser behandelt, um das Metall in Lösung zu bringen. Später fanden wir13, daß diesen Verfahren, nach denen auch Borinski und die Quecksilberstelle der Charité arbeiteten, verschiedene Fehlerquellen anhafteten. Die älteren Analysenergebnisse können deshalb nicht als durchweg zuverlässig gelten; meist waren sie wohl zu niedrig*1.

Wir griffen deshalb ein von J. Bodnár und E. Szép 1929 veröffentlichtes*2 Analysenverfahren auf, bei dem das Quecksilber als Kügelchen isoliert und durch Messung des Durchmessers unter dem Mikroskop bestimmt wird. In seiner ursprünglichen Form (nicht mehr als 1/10ccm Lösung, Ausfällen des Quecksilbers an einem Eisendraht innerhalb 1-2 Min.) war es für unsere Zwecke nicht zu gebrauchen. Es ließ sich (B. Lux13, vgl. auch16) aber so abändern, daß es allen Ansprüchen genügt und die genaue Bestimmung von 0,01-1000µ Quecksilber gestattet, wobei die quecksilberhaltige Ausgangslösung bis zu 50ccm Volumen haben kann. Das Quecksilber wird aus salzsaurer Lösung, die freies Halogen enthalten darf, ein praktisch häufiger Fall, elektrolytisch an einer Kupferdrahtkathode abgeschieden, von dieser abdestilliert und unter dem Mikroskop als Kügelchen gemessen. Bei einer Nachprüfung der verschiedenen Verfahren zur Aufschließung organischer Stoffe17 erwies sich die Oxydation mit Kaliumchlorat-Salzsäure als das brauchbarste, wenn sie auch bei schwer angreifbarem Material manchmal einen kleinen Teil des Quecksilbers nicht erfaßt. Für die Harnanalyse genügt eine Behandlung mit Chlor. Fette, Öle und dgl., die das Quecksilber besonders festhalten, verbrennt man und bestimmt das Quecksilber in den Verbrennungsgasen. Bei größeren Flüssigkeitsmengen fällt man das Quecksilber nach Zusetzen von etwas Kupfersulfat als Sulfid, behandelt dieses mit Chlor usw. Aus Mineralien wird das Quecksilber durch Erhitzen auf 800° ausgetrieben und in einer mit flüssiger Luft gekühlten Vorlage aufgefangen.

Die mikrometrische Quecksilberbestimmung schließt dadurch, daß das Metall selbst zur Beobachtung kommt, bei anderen Verfahren mögliche Irrtümer aus. Bei der Analyse der kleinsten Mengen bedarf es großer Sorgfalt, um durch den Quecksilbergehalt der Reagenzien, der Filter und der Luft (vgl. den folgenden Abschnitt) verursachte Fehler zu vermeiden.

Leider ist das in der Ausführung einfachere spektroskopische Analysenverfahren*3 offenbar gerade beim Quecksilber, wohl wegen dessen Leichtflüchtigkeit, weniger zuverlässig und empfindlich als bei anderen Elementen.

Für die Bestimmung des Quecksilbergehaltes der Luft18 wird eine bekannte Menge Luft zur Kondensation des Quecksilbers durch flüssige Luft geleitet oder mittels flüssigen Stickstoffes ganz verflüssigt usw. Man kann auch nach B. L. Moldawskij*4 der Luft Bromdampf beimengen und das gebildete Quecksilberbromid mit Wasser herauswaschen.


*1 Beispielsweise fand Borinski in sicher quecksilberhaltigem Material vielfach kein Quecksilber oder nur einen kleinen Teil der Menge, die nach unseren späteren Analysen darin gewesen sein muß.

*2 Biochem. Z. 205, 219 (1929).

*3 Vgl. W. Gerlach u. W. Gerlach: "Die chemische Emissions-Spektralanalyse", 2. Teil, S. 112 f. Leipzig 1933. Die Verfasser fanden in gewissen Organen, die sicher Quecksilber enthielten (z. B. Nieren), kein Quecksilber.

*4 Moldawskij, B. L: Shurn. prikladnvi Chim. 3, 955 (1930). - Chem. Zbl. 1931 I, 1644.

 


 

5. Die Verbreitung des Quecksilbers

Mit den verfeinerten Analysenverfahren ergab sich die vorher unbekannte Tatsache, daß Spuren Quecksilber in der Natur überall vorhanden sind und in oft größeren Mengen auch in viele technische Erzeugnisse übergehen13 14 16 21 *1. Durchschnittlich liegt der Quecksilbergehalt bei den mineralischen und organischen Naturstoffen zwischen 10-8 und 10-7 (10-100µ je 1000g). Wir fanden beispielsweise (alles in µ Hg je 1000g oder 1000ccm):

Verschiedene Gesteine 5-80, Tonschiefer 500, ein mariner Tonschiefer aus der Carbonzeit sogar 1400. Acker und Waldböden 30-80, in der Nähe der Stadt 100-290. Straßenstaub 870, fossile Kohlen 1-25; Holz 15-25. Leuchtgas 5 (in 1 cbm); Gaswasser 160. Kaminruß 3500 bis 30000.

Salzsäure roh 500-2200, gewöhnlich 10-15, pro anal. 3, für forens. Zwecke (Schering-Kahlbaum) 0,3. Schwefelsäure roh 1800, pro anal. 1-36. Salpetersäure gewöhnlich 40-80, pro anal. 1-20. Eisessig 650. Filter qualit. (je Stück) 0,3, quantit. 0,03.

Wasser aus einer Waldquelle 0,01-0,05. Leitungswasser 0,02-0,05*2. Rheinwasser 0,1. Meerwasser (Nähe von Helgoland) 0,03. Destilliertes Wasser 0,05-2,1. Regenwasser 0,05-0,48, Mittel von 20 Proben 0,20. Der Quecksilbergehalt des Regenwassers beweist, daß sich auch in der atmosphärischen Luft (nicht unmittelbar nachweisbare) Spuren Quecksilberdampf befinden. Auch eine Probe, die kilometerweit von Häusern entfernt gesammelt war, enthielt Quecksilber (0,13). Aus Ruß oder Staub stammte dieses also augenscheinlich nicht.

Gemüse, Obst 5-35. Mehl 25-35. Brot 5. Kartoffeln 1. Pflanzliche Fette 60-115. Wein 5-10. Bier 1-15. Fleisch, Leber, Herz verschiedener Tiere 5-20. Nieren 20-70. Tierische Fette 70-280. Ei 2. Milch 6-12. Süßwasserfische 30-180. Seefische 25-110.

Die Analyse ganzer Mittagessen der Karlsruher Mensa ergab je Portion 1/4-3 1/2µ Hg.

Nach diesen Befunden nimmt der Mensch bei unserer Ernährungsweise im Durchschnitt täglich mindestens 5µ an Quecksilber auf (an Kupfer etwa das Tausendfache).


*1 Borinski (1. c.) hatte dies kurz zuvor schon in einzelnen Fällen festgestellt. wegen der Mängel seines Bestimmungsverfahrens fand er durchweg zu wenig, manchmal gar kein Quecksilber.

*2 In den Leitungsrohren setzen sich quecksilberhaltige Beschläge ab. In einem 80 cm langen eisernen Leitungsrohr fanden sich 30µ Hg. Schnell abgelassenes Wasser enthält deshalb oft mehr Quecksilber als vorsichtiger abgelassenes.

 


 

6. Der Quecksilbergehalt der menschlichen Ausscheidungen und des Blutes

Wir haben diese Frage besonders im Hinblick auf die Diagnose der Quecksilbervergiftung eingehend untersucht und darüber kürzlich berichtet22. Die damaligen Angaben sind durch neuere Analysen durchweg bestätigt worden.

Früher nahm man an, daß ein Quecksilbergehalt der Ausscheidungen auf eine Quecksilbervergiftung schließen lasse. Dies ist irrig, weil alle Menschen wegen des Quecksilbergehaltes der Nahrungsmittel auch regelmäßig eine gewisse kleine Menge Quecksilber ausscheiden und weil aus den Amalgamzahnfüllungen weiteres Quecksilber zugeführt werden kann, ohne daß es zu einer Quecksilbervergiftung kommt.

Das Ergebnis unserer Untersuchungen ist folgendes:

"Quecksilberfremde", d. h. die - recht seltenen! - Personen, die keine Amalgamfüllungen haben und auch sonst gar nicht mit Quecksilber in Berührung kommen, scheiden täglich im Harn ziemlich regelmäßig 1/2-1µ, im Stuhl stärker schwankende Mengen, bis etwa 10µ Quecksilber aus, d. i. insgesamt ungefähr so viel, wie sie mit der Nahrung aufnehmen. Eine nennenswerte Speicherung an Quecksilber erfolgt also im Körper nicht, wie durch Analysen von Leichenmaterial bestätigt wurde. Nur in den Nieren findet sich etwas mehr Quecksilber*1.

"Amalgamträger", ohne sonstige nachweisbare Berührung mit Quecksilber, scheiden größere Quecksilbermengen aus: täglich im Harn einige µ und darüber, im Stuhl 20 und mehr, je nach Größe und Art der Füllungen. Die Menge wechselt häufig stark von Tag zu Tag. Auf Grund des Analysenbefundes kann meist gesagt werden, ob jemand Amalgamfüllungen trägt oder nicht, natürlich unter der Voraussetzung, daß eine sonstige Quecksilberaufnahme, von den Nahrungsmitteln abgesehen, nicht stattfindet.

Bei Leuten, die beruflich mit Quecksilber zu tun haben, steigen die ausgeschiedenen Mengen stark, in Ausnahmefällen bis zu mehreren Milligramm täglich. Doch fanden wir bei klinisch festgestellten Quecksilbervergiftungen auch oft nur etwa 10µ Quecksilber im Harn. Bei Quecksilberüberempfindlichkeit können die Gehalte noch weit niedriger sein und die für "Quecksilberfremde" geltenden Werte erreichen.

Der Quecksilbergehalt des Blutes beträgt, wie sich aus den schon veröffentlichten und aus einer größeren Zahl weiterer Analysen*2 ergibt, normalerweise 3-7µ in 1000g. Bei frischen stärkeren Vergiftungen erhöht er sich bis auf das Zehnfache; in einem Falle (mit Stomatitis und "Quecksilbersaum" am Zahnfleisch) war er auf 180µ gestiegen. Wird die Quecksilberzuführung unterbunden, so fällt er schnell auf den normalen Wert herab. Aus dem Harn dagegen verschwindet das Quecksilber viel langsamer, bei stärkeren Vergiftungen erst in vielen Monaten. Das im Blute kreisende Quecksilber wird von der Niere festgehalten und aus dieser nur ganz allmählich wieder abgegeben (S. den nächsten Abschnitt).

Hiernach ist die Analyse der Ausscheidungen für die Diagnose der Quecksilbervergiftung nur in beschränktem Umfange zu verwenden*3. Der Stuhlanalyse kommt wenig Bedeutung zu. Enthält der Harn in der Tagesportion nicht mehr als wenige µ Quecksilber, so ist eine Vergiftung unwahrscheinlich, es sei denn, daß bereits Quecksilberüberempfindlichkeit vorliegt; enthält er über 10µ, so ist eine Vergiftung wahrscheinlich; 50µ und darüber sprechen entschieden für eine Vergiftung. Übernormaler Quecksilbergehalt im Blut, über 10µ in 1000g, beweist, daß dem Organismus noch vor kurzem Quecksilber in größerer Menge zugeführt worden ist.


*1 Ob dies, wie man nach den Analysen tierischen Materials annehmen kann, auch für das Fett gilt. soll später geprüft werden.

*2 Vgl. Dissertation Kreyer.

*3 Daß sie "als Kriterium ganz ausfällt" (B.-H., S. 155), ist zuviel gesagt.

 


 

7. Die Verteilung des Quecksilbers im Organismus und die Wiederausscheidung

Um einen allgemeinen Überblick über die Wege des Quecksilbers im Organismus zu bekommen, stellten wir mehrere Versuchsreihen mit Meerschweinchen*1 an (23, dort auch graphische Darstellung der Ergebnisse).

Die erste Reihe betraf die Aufnahme von Quecksilberdampf durch die Atmungswege. Die Tiere wurden 1/2-4 Tage*2 in Luft mit 6-7 µ Hg in 1000 ccm gehalten und getötet. Schon nach wenigen Stunden wurden sie teilnahmslos und verweigerten die Nahrungsaufnahme. Lunge, Niere und der ganze Rest (einschließlich Darminhalt) kamen zur Analyse. In der Lunge stieg der Quecksilbergehalt zuerst schnell, nach etwa 2 Tagen nur noch langsam all, d. h. die Lunge schickte nun fast ebenso viel Quecksilber, wie sie aufnahm, in den Kreislauf*3.

Schneller und bis zum Schluß stärker vergrößerte sich die Quecksilbermenge in den Nieren, die trotz ihrer Kleinheit durchweg mehr Quecksilber enthielten als die Lungen. Der Rest des Körpers blieb sehr quecksilberarm; selbst nach 4 Tagen befand sich darin im ganzen knapp doppelt so viel Quecksilber*4 wie in den Nieren, die also das aus den Lungen in den Kreislauf gelangende Quecksilber erstaunlich schnell und vollständig speichern. Dabei erleiden sie eine Störung ihrer Arbeit: Der Reststickstoffgehalt des Blutes stieg.

Die zweite Versuchsreihe stellte fest, wie sich die Wiederausscheidung des durch die Lungen aufgenommenen Quecksilbers aus dem Organismus abspielt. Die Tiere wurden 10 Stunden in der Quecksilberluft, dann 2-60 Tage in reiner Luft gehalten, ehe sie zur Analyse kamen. Das Ergebnis war ein sehr schnelles Absinken des Quecksilbergehaltes in der Lunge und im Körperrest, besonders in der ersteren, ein äußerst langsames dagegen in den Nieren. In diesen allein befand sich z. B. nach 3 Wochen 6 mal mehr Quecksilber als im ganzen übrigen Körper.

Bei der dritten Versuchsreihe führten wir den Tieren das Quecksilber nicht als Dampf durch die Lungen, sondern mit der Nahrung (Rüben, die in quecksilberhaltiger Luft Quecksilber aufgenommen hatten) durch den Magen zu. Dabei vollzog sich die Speicherung in den Nieren noch auffallender. Deren Quecksilbergehalt nahm dauernd zu, während derjenige des Körperrestes sich schon vom zweiten Tage an kaum änderte und nach 14 Tagen nur etwa 1/5 von dem der Nieren betrug. Hier fingen also die Nieren das in den Körper eindringende Metall fast quantitativ ab. Eine geringfügige, viel schwächere Ansammlung von Quecksilber erfolgte in der Leber.

Es ließ sich zeigen, daß sich das Quecksilber in den Organen in chemisch gebundener, oxydierter, nicht in metallischer Form befand; erst nach Behandlung der Niere mit Reduktionsmitteln erschienen Quecksilberkügelchen.

Auch bei den längsten Quecksilberfütterungsversuchen blieben die Meerschweinchen munter und freßlustig, während sie bei den Atmungsversuchen zu einer Zeit, da der Quecksilbergehalt der Nieren etwa der gleiche war, schon schwere Störungen ihres Wohlbefindens aufwiesen, ein neuer Beweis dafür, wie viel stärker eingeatmetes Quecksilber die Gesundheit schädigt als geschlucktes.

Wenn man sich auch hüten soll, das Ergebnis von Tierversuchen leichtfertig auf den Menschen zu übertragen, so läßt sich doch annehmen, daß Aufnahme und Wiederausscheidung des Quecksilbers beim Menschen ebenso vor sich gehen wie bei den Meerschweinchen. Die Speicherung des Quecksilbers konnten wir auch in der menschlichen Niere an Leichenmaterial feststellen. Daß beim Menschen die Niere ebenfalls das gespeicherte Quecksilber sehr lange festhält und nur allmählich wieder abgibt, zeigten unsere Harnanalysen. Die Funktion der menschlichen Nieren wird durch das Quecksilber genau so gestört wie diejenige der Meerschweinchennieren. Nierenentzündungen, Anurie und Urämie sind typische Symptome stärkerer Quecksilbervergiftungen. Daß auch beim Menschen das Quecksilber aus dem Blutkreislauf schnell wieder verschwindet, wurde im vorigen Abschnitt mitgeteilt.


*1 Kontrolltiere enthielten (wieder auf 1000 g Organ umgerechnet) in den verschiedenen Teilen 10-30 µ Hg, in den Nieren 100-150 µ.

*2 Dann gingen sie unter Darmblutungen ein.

*3 In den Lungen wird, wie an Menschen vorgenommene Versuche zeigten, der größte Teil des eingeatmeten Quecksilberdampfes absorbiert. Quecksilber, das in Wasser bei Luftausschluß nur sehr wenig löslich ist (0,03µ/ccm), löst sich bei Gegenwart von Luft (als HgO, in Chloridlösungen als HgCl) viel stärker (40µ Hg/ccm), besonders glatt im Blut20. In der Lunge findet es günstige Bedingungen für die Lösung: große Blutoberfläche, Luft, erhöhte Temperatur.

*4 Von dem noch ein wesentlicher Teil dem Darminhalt entstammte.

 


 

8. Die Quecksilberüberempfindlichkeit

Die Frage der Quecksilberempfindlichkeit und -unempfindlichkeit ist oft erörtert worden. Bei B.-H. (S. 132) heißt es: <Eine Idiosynkrasie kommt scheinbar vor. Die größere Überempfindlichkeit ist oft die einzige Folge einer Quecksilbervergiftung; je öfter ein Mensch an Erethismus oder Tresor litt, desto leichter und furchtbarer pflegt er erfahrungsgemäß von neuen Anfällen heimgesucht zu werden.>

Unser Beobachtungsmaterial bringt auch in dieser Beziehung weitere Klärung. Eine angeborene Idiosynkrasie, wie man sie gegenüber gewissen organischen Substanzen und Chemikalien (z. B. Jod) kennt, ohne Näheres über ihr Wesen zu wissen, gibt es bei der Quecksilberdampfvergiftung nicht. Dagegen steigern sich regelmäßig im Laufe der chronischen Vergiftung die Giftempfindlichkeit und die Vergiftungsbereitschaft, so daß es zu einer ausgesprochenen Überempfindlichkeit kommen kann, bei der bereits Quecksilberdampfspuren schädlich wirken, die andere Menschen nicht im geringsten behelligen und auch auf den Betroffenen selbst ursprünglich nicht auswirkten. Diese Überempfindlichkeit ist merkwürdig, weil ja auch der menschliche Organismus zweifellos normalerweise in allen seinen Teilen Spuren Quecksilber enthält.

Der oben angeführte zweite Satz, der sich bei B.-H. auf die stärkere Quecksilbervergiftung bezieht, gilt also auch für die <leichte>. Ein Fall von einer angeborenen derartigen Überempfindlichkeit ist mir nicht bekanntgeworden. Man spricht daher besser von einer <Sensibilisierung>, nicht von <Idiosynkrasie>.

Das Gesagte bezieht sich nur auf die Wirkung des Quecksilberdampfes. Es ist bekannt, daß es eine hauptsächlich in Hauterscheinungen sich äußernde, durch den Hauttest nachweisbare richtige Quecksilberidiosynkrasie gibt. Diese hat mit der Quecksilberdampfüberempfindlichkeit (im folgenden kurz <Überempfindlichkeit> genannt) nichts zu tun. Warum beide voneinander unabhängig sind, ergibt sich aus dem nächsten Abschnitt.

Bei Überempfindlichkeit lösen kleinere Quecksilbermengen dieselben Erscheinungen aus wie sonst nur größere; doch verschwinden die Beschwerden wieder schneller. Wieweit die Empfindlichkeit gehen kann, habe ich an mir selbst beobachtet. Ich komme nochmals auf meine persönlichen Erfahrungen zu sprechen, weil sie für viele Fälle typisch sind und auch anderen nützen können, denen es ähnlich ergeht. Als ich vor 10 Jahren nach dem Abklingen meiner schlimmen Quecksilbervergiftung von Dahlem nach Karlsruhe übersiedelte, befleißigte ich mich hier natürlich größter Vorsicht im Umgehen mit Quecksilber. Alle Räume im Chemischen Institut wurden nach Möglichkeit saniert, mein Privatlaboratorium mit seinen Quecksilbervakuumapparaturen besonders für das Arbeiten mit Quecksilber eingerichtet (vgl.9)*1. Die Luftanalyse in den Übungs- und Hörsälen, auch in meinem Dienstzimmer ergab nur einige Zehntel bis etwa lµ Quecksilber im Kubikmeter Luft. Trotzdem wollten meine Beschwerden nicht ganz verschwinden. Häufige Benommenheit, chronische Schnupfen und Katarrhe, die allen ärztlichen Bemühungen trotzten, beeinträchtigten das Arbeitsvermögen. Bei längeren Reisen besserte sich das Befinden, verschlechterte sich aber sogleich, wenn ich die Arbeit in Karlsruhe wieder aufnahm, und zwar auch dann, wenn ich das Chemische Institut selbst nicht betrat. So glaubte ich, die vorangegangene Quecksilbervergiftung habe mein Nervensystem ein für allemal angegriffen und einen chronischen Katarrh hinterlassen, womit ich mich abfinden müsse. Stutzig wurde ich, als wir vor einem Jahre feststellten, daß auch in dem von mir bewohnten, vom Institut getrennten Diensthaus Quecksilber in der Luft war*2. Als ich nun der Sache auf den Grund ging, ergab sich, daß es sich bei mir gar nicht um eine chronische Gesundheitsschädigung handelte, sondern um die immer erneute Wirkung der im Laboratorium und in der Wohnung eingeatmeten Quecksilberspuren. Die Empfindlichkeit ist bei mir so groß, daß schon bei mehrstündigem Aufenthalt in einer Luft mit einigen Zehntel µ Quecksilber im Kubikmeter (oder kürzerem bei mehr Quecksilber) die üblichen Beschwerden auftreten. Auf weitere Einzelheiten sei an dieser Stelle nicht eingegangen. Unzweifelhaft liegt eine Wirkung des Quecksilbers vor. Die Erscheinungen bleiben im- Freien oder in anderen, quecksilberfreien Räumen aus. Besondere Beweiskraft hat folgender Testversuch. Einatmen weniger Liter Luft, die über Quecksilber geleitet war (Gehalt 8µ Hg/1000 ccm), durch die Nase rief bei mir dieselben, in einigen Tagen wieder verschwindenden Beschwerden hervor: Benommenheit, Kopfschmerz, Nasenkatarrh. Bei einem jüngeren Fachgenossen, der ebenfalls an einer, wenn auch etwas geringeren, Überempfindlichkeit leidet, wirkte dieser Testversuch genau so*3.

Die sich allmählich steigernde Empfindlichkeit ist offenbar nicht nur oft, sondern regelmäßig die Begleiterscheinung, sobald es einmal zur Quecksilbervergiftung gekommen ist. Immer wieder teilten mir unter der Vergiftung Leidende mit, daß ihre Beschwerden, die sie bei längerem Urlaub langsam verloren hatten, sofort nach der Rückkehr in das Laboratorium, die Werkstatt oder das Behandlungszimmer wieder auftraten, meist schon am ersten Tage, oft bereits in der ersten Stunde. Wie erwähnt, wird die Überempfindlichkeit erst allmählich erworben*4. Zum ersten Zustandekommen einer Quecksilbervergiftung bedarf es stärkerer und längerer Einwirkung des Giftes. Ich selbst war von Natur sehr wenig quecksilberempfindlich; erst recht große - unverzeihliche, muß ich heute sagen - Unvorsichtigkeit beim Umgehen mit dem Quecksilber, vor allem beim Arbeiten mit der Quecksilberwanne, hat mich dem Merkurius ausgeliefert. Trotz der außerordentlichen Quecksilberdampfempfindlichkeit habe ich, wie der Hauttest zeigt, keine allgemeine Quecksilberidiosynkrasie.

Die Überempfindlichkeit gegenüber Quecksilberdampf ist oft von einer solchen gegenüber anderen flüchtigen Chemikalien (Schwefeldioxyd, Chlor usw.), auch gegenüber Tabakrauch*5 begleitet.

Vermeidet man jede weitere Berührung mit Quecksilberdampf, so verliert sich die Überempfindlichkeit allmählich wieder. Das ergibt sich mit Sicherheit aus der Beobachtung des Verlaufes vieler Vergiftungsfälle. Sie scheint um so langsamer zu weichen, je stärker und vor allem je länger die vorausgegangene Vergiftung war. Es kann Jahre dauern. Hatte die Empfindlichkeit schon einen besonders hohen Grad erreicht, so ist es überaus schwer, den dann bereits schädlich wirkenden Quecksilberspuren ganz aus dem Wege zu gehen. Bei den Arbeitern Quecksilberverarbeitender Industrien, bei Physikern, Chemikern usw. wird dies praktisch oft überhaupt nicht möglich sein. Will man sich sein Leben nicht dauernd durch das Gift verbittern lassen, so muß man das Steuer des Lebensschiffes umlegen wie Ostwald.

Die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit, daß sich aus einer Quecksilbervergiftung eine solche Überempfindlichkeit entwickelt, mahnt zu noch größerer Vorsicht beim Umgehen mit dem tückischen Gift.

 


*1 Daß die besten Vorsichtsmaßregeln zuschanden werden können, zeigte sich auch hier: Eine tüchtige Putzfrau stellte einen Tiegel, aus dem sie Quecksilber entfernen wollte, in einen an der Wand hängenden, recht heiß gemachten Trockenschrank. So beträgt der Quecksilbergehalt in diesen Räumen trotz kräftiger Entlüftung jetzt immer 2-3 µ je Kubikmeter Luft.

*2 In den meisten Räumen 0,1-0,3 µ Hg/cbm. Es entstammt einem Quecksilber (oder Sublimat-) Gehalt des Eichenstabfußbodens, der sich in einem großen Teil der Räume befindet. Wie er entstanden ist, ließ sich nicht mit Bestimmtheit feststellen, wahrscheinlich durch eine Sublimatbehandlung des Holzes.

*3 Man hat damit ein Mittel, die Quecksilberdampfempfindlichkeit zu prüfen und vielleicht sogar durch Bestimmung der wirksamen Quecksilber-Luftmenge zu messen. Die beste Ausführungsform muß noch ermittelt werden. Es scheint, daß bei der von uns benutzten die Gefahr eines Kehlkopfkatarrhs besteht. Von dem durch die Nase gehenden Quecksilber wird natürlich nur der kleinste Teil von deren Schleimhaut festgehalten. Vielleicht ist eine Nasenpinselung mit entsprechend verdünnter Sublimatlösung vorzuziehen (vgl. den nächsten Abschnitt).

*4 Was auch durch Amalgamzahnfüllungen geschehen kann.

*5 Hier kann das im Tabakrauch enthaltene Quecksilber (s. oben) mitspielen.

 


 

9. Die Rolle der Nase bei der Quecksilbervergiftung*1

Wir sahen, daß schon das Einatmen weniger µ Quecksilberdampf bei überempfindlich gewordenen Personen (auch bei anderen sind es außerordentlich kleine Quecksilbermengen, welche die Vergiftungserscheinungen hervorrufen) zu schnell auftretenden empfindlichen Beschwerden, zunächst nervös-psychischer Art und in der Nase, führt. Wie ist dies möglich? Angesichts der Winzigkeit der Giftmengen muß man es von vornherein als unwahrscheinlich betrachten, daß das Quecksilber den Weg über den Kreislauf nimmt. Die Verdünnung des Giftes wäre dabei zu außerordentlich. Zudem wurde oben gezeigt, daß das in den Kreislauf kommende Quecksilber größtenteils von der Niere abgefangen wird.

Offenbar wirkt das Quecksilber sofort in der Nase, indem es von deren Schleimhaut aufgenommen wird. Hier findet der Metalldampf die erste Gelegenheit, sich zu oxydieren und in Lösung zu gehen. Dies wird sich hauptsächlich in der oberen Nase, der Siebbeingegend, vollziehen, wo sich der eingeatmete Luftstrom bricht, wo Strömungswirbel entstehen und sich auch Keime, Staub- und Rauchteilchen vornehmlich ablagern.

Der Rolle, welche die Nase bei der Quecksilbervergiftung spielt, hat man bisher zu wenig Beachtung geschenkt. Tatsächlich wird die Nase bei allen Quecksilberdampfvergiftungen, und zwar von Anfang an, in Mitleidenschaft gezogen. Wir wiesen gleich darauf hin; auch Fleischmann tat es auf Grund des Beobachtungsmaterials der Charité-Quecksilberstelle. Brüggemann*2 beschrieb unter der Überschrift <Eine seltene Ursache chronischer Naseneiterung (schleichende Quecksilberdampfvergiftung)> einen beruflichen Vergiftungsfall und kam zu dem Schluß: <Es soll bei ätiologisch unklarer chronischer Naseneiterung an die schleichende Quecksilberdampfvergiftung als Ursache gedacht werden.> Bei B.-H. heißt es (S. 122) allerdings nur kurz: <Abgesehen von der Neigung zum Nasenbluten (Erweiterung der Venen am Nasenseptum), feuchten und trockenen Katarrhen der Nasenhöhle (Brüggemann), worüber manchmal geklagt wird, werden an der Nase keine spezifischen Erkrankungen beobachtet.>

Gerade die Nasenerscheinungen (Schwellung der Schleimhäute, Katarrhe, Bildung oft eitriger und blutiger Schorfe) sind aber für die Quecksilbervergiftung besonders charakteristisch. Sie stehen, wie gleich gezeigt werden soll, offenbar in engstem Zusammenhang mit den nervös-psychischen Beschwerden. Man kommt wohl überhaupt mehr und mehr zu der Überzeugung, daß die Nase nicht nur an vielen Infektionen, sondern auch an Vergiftungen (Blei, Zink usw.) entscheidend beteiligt ist.

Wir überzeugten uns zunächst (unterstützt von Herrn Prof. Dr. E. v. Gierke) durch den Tierversuch, daß in der Tat eine erhebliche Quecksilberabsorption in der Nase erfolgt. 2 Kaninchen wurden 4 Wochen in schwach quecksilberhaltiger Luft gehalten. Es fanden sich danach in Nase und oberem Rachen 6,5 und 6,1µ Quecksilber, während die Nieren 19 und 33µ enthielten, die Quecksilberaufnahme im ganzen also nur klein gewesen war.

Beim Menschen muß es ähnlich sein. Die Schleimhaut der obersten Luftwege nimmt Quecksilber auf, das, wie bekannt, gerade Schleimhäute besonders stark reizt. So erklärt sich, daß die Nasenschleimhaut anschwillt, sich entzündet, nekrotisch wird, sich abstößt*3 und Infektionen Raum gibt. Auch im Rachen- und Gaumenraum und im Kehlkopf wird Quecksilber absorbiert, und so greifen die Störungen über die Nase hinaus*4, führen durch Tubenkatarrhe (B.-H., S. 123) zu Ohrensausen, Schwerhörigkeit und Schwindel, verursachen gelegentlich den <Kußmaulschen Lackrachen> (B.-H., S. 86), weiter die Erscheinungen in der Mundschleimhaut, am Zahnfleisch usw.

Andererseits pflanzt sich die Störung von der Nase aus vermutlich durch Lymphbahnen des Hirnriechlappens (Bulbus olfactorius) in das Stirn- (Orbital-) Hirn und die Hirnhaut*5 fort. Wer die Quecksilberdampfeinwirkung an sich subjektiv beobachten konnte, weiß, daß die <nervösen> Beschwerden immer von der oberen Nase ausgehen, zunächst als örtlich begrenztes (zwischen den Augen empfundenes) eigentümliches, innere Unruhe erzeugendes Gefühl des <Krabbelns>, dann als dumpfer Druck an derselben Stelle, der sich später als <Kopfschmerz> weiter ausdehnt, ohne die oberen (und gewöhnlich auch die hinteren) Kopfgebiete in Mitleidenschaft zu ziehen. Hand in Hand damit laufen die psychischen Wirkungen, die Lähmung der Arbeitsfähigkeit, die Niedergeschlagenheit usw. Man weiß, daß gerade der Stirnbezirk des Hirns zu den höheren psychischen Funktionen in Beziehung steht. Auch physische Begleiterscheinungen der Quecksilbervergiftung*6 werden wohl vom Hirn aus gesteuert*7, dessen Basis der Sitz vieler hormonaler Funktionen ist.

Ähnliche Gedanken über das Wesen der Quecksilbervergiftung sind schon früher ausgesprochen worden (B.-H., S. 113):

<Wenn auch Anzeichen von peripher gelegenen Veränderungen der Nerven vorhanden sind, ist doch in der Hauptsache der Prozeß im Zentralnervensystem zu suchen (Kulkow); er nimmt eine diffuse Schädigung des Gehirns durch das Quecksilber (toxische Cerebropathie) an mit vorwiegender Lokalisation im Kleinhirn. Die Erklärung stände mit der Ansicht von Guillain und Laroche im Einklang, daß der Intentionstremor ... durch Schädigung des Kleinhirns und seiner Bahnen infolge eines durch Quecksilber im Zentralnervensystem hervorgerufenen chronischen Entzündungszustandes ausgelöst wird.>

Allerdings setzte man bisher wohl immer voraus, daß das Metall durch den Kreislauf in das Nervensystem gelangt. Für unsere Ansicht, daß dies wenigstens bei den sog. leichten Vergiftungen durch die Nase geschieht, ist das folgende Experimentum crucis entscheidend: Ich wiederholte die im vorhergehenden Abschnitt besprochene Testprobe und atmete mit Quecksilberdampf beladene Luft ein, diesmal aber nicht durch die Nase, sondern unter Zuhalten der Nase durch den Mund. Selbst beim Zehnfachen des Luftvolums, das auf dem Nasenwege deutliche Schleimhaut- und nervös-psychische Wirkungen ausübte, traten diese nicht auf, obwohl so viel mehr Quecksilber durch die Lungen in den Kreislauf gekommen war.

In diesem Zusammenhang sei an eine früher1 mitgeteilte Beobachtung erinnert. Wurden, als ich noch an meiner stärkeren Quecksilbervergiftung litt, bestimmte Stellen der oberen Nase cocainisiert, so verschwanden in wenigen Minuten alle nervös-psychischen Beschwerden; Arbeitslust, Gedächtnis usw. kehrten für einige Stunden zurück. Der Erfolg blieb aus, wenn nicht gerade die richtige Stelle vom Cocain getroffen wurde, trotz Anwendung größerer Cocainmengen. Dies macht wahrscheinlich, daß es sich nicht um eine allgemeine Cocainwirkung handelte. Augenscheinlich drang auch das Cocain aus der oberen Nase in die benachbarten gereizten Hirnteile ein und beseitigte dadurch die Beschwerden.

Es erhebt sich die Frage: Welcher Art ist die Fortpflanzung der Störungen von der Nase in das Hirn? Sind es Reflexerscheinungen, veranlaßt durch den Reizzustand der Nase? Oder gelangt Quecksilber in chemisch gebundener, löslicher Form durch den Riechlappen in die Nachbarhirnteile und in die Hirnhaut, um dort seinerseits ähnliche Störungen hervorzurufen wie in der Nasenschleimhaut?

Genaue Beobachtung stützt die zweite Erklärung. Es besteht zwar ein deutlicher Zusammenhang zwischen Nasen- und <Hirn>-Beschwerden; dieser Zusammenhang ist aber nicht ein streng Unmittelbarer. Bei ganz schwacher, doch dauernder Quecksilbereinwirkung bleibt die Nasenreizung gering (nur Schleimhautschwellung); trotzdem breitet sich die Hirnreizung mehr und mehr aus. Dies deutet auf allmähliches Vordringen des Giftes selbst im Hirn. Andererseits sind oft bei kurzer Einwirkung etwas größerer Quecksilbermengen die anfangs erheblichen Beschwerden in der Nase bereits im Verschwinden, während sich diejenigen im Hirn erst entwickeln. Auch dies spricht für die zweite Erklärung.

Zur weiteren Prüfung der Frage griffen wir wieder zum Tierversuch, in Zusammenarbeit mit Herrn Dozent Dr. habil. med. et phil. Wolfgang Wirth*8 (analytischer Teil: A. Kreyer). Größere Hunde wurden nur kurze Zeit, 2 1/2 oder 8 Stunden, in schwach quecksilberhaltiger Luft (etwa 1/100 gesättigt) gehalten und entweder sofort oder nach kürzerem oder längerem Aufenthalt in reiner Luft getötet und analysiert. Der folgende Auszug aus unseren Versuchszahlen zeigt die Quecksilbergehalte in den Hauptorganen und in einzelnen Hirnteilen:

Besondere Beachtung verdienen die Versuche 4 und 5, bei denen die Tiere nur 2 1/2 Stunden dem Quecksilberdampf ausgesetzt waren und kurz danach zur Analyse kamen. Gegenüber dem Kontrolltier*9 befindet sich mehr Quecksilber im Riechlappen (Bulb. olfact.) sowie im Stirnhirn, während der Quecksilbergehalt im viel größeren Hirnrest, im Muskel und in den meisten Organen noch nicht oder fast nicht, im Blut und in der Lunge erst wenig gestiegen ist. Auch in der Niere, die doch das Quecksilber so leicht speichert, ist der Anstieg noch ganz geringfügig*10. Unter diesen Umständen ist es wenig wahrscheinlich, daß der hohe Quecksilbergehalt im Riechlappen und Stirnhirn etwa von einer besonderen Bindungskraft (<Ansprechbarkeit>)*11 dieser Hirnteile für zunächst in den Kreislauf gelangtes Quecksilber herrührt. So stützen auch diese Versuche die Annahme, daß es das von der Nase in gewisse Hirnteile eindringende Quecksilber ist, welches dort Störungen, Entzündungen, Druck auf die Hirnhaut und die nervös-psychischen Erscheinungen verursacht. Das letzte Wort kann erst gesprochen werden, sobald von uns geplante Untersuchungen an menschlichem Material vorliegen.

Über die physiologische Wirkung so winziger Quecksilberspuren braucht man sich nicht zu wundern. Quecksilber kann für Oxydations- und Reduktionsvorgänge, die ja im Organismus eine Hauptrolle spielen, ein außerordentlich starker Katalysator sein. Z. B. katalysiert es nach A. Klemenc, und F. Pollak*12 die Oxydation von arseniger Säure mit Salpetersäure schon in einer Konzentration von 10-10 an (positiv; bei Konzentrationen über 10-8 negativ).

Über das Wesen der Sensibilisierung, über den Grund der Quecksilberüberempfindlichkeit kann man vorläufig nur Vermutungen anstellen. Vielleicht entsteht sie dadurch, daß die von der Quecksilberdampfeinwirkung angegriffene Nasenschleimhaut*13 dem Durchtritt des Quecksilbers in das Hirn weniger Widerstand entgegensetzt. Daß sie selbst in ihrem gereizten Zustand auf Quecksilber leichter reagiert als vorher, begreift sich ohne weiteres. Vielleicht werden auch Hirn und Hirnhaut durch das Quecksilber allmählich in einen Zustand erhöhter Reizbarkeit versetzt, in dem schon kleinere Quecksilbermengen so wirken wie früher nur größere. Auch hier ist Klärung nur vom Versuchen am Menschen zu erwarten.

Schon heute steht jedenfalls fest, daß die leichtere Quecksilberdampfvergiftung, die bei weitem die Mehrzahl aller Vergiftungsfälle ausmacht, hauptsächlich eine Angelegenheit der Nase und ihrer Nachbarschaft,nicht des Kreislaufes ist. Wird der Organismus mit Quecksilber überschwemmt, so können sich die Verhältnisse natürlich ändern.


*1 Vgl.24

*2 Brüggemann;: Z. Laryng. usw. 15, 107 (1926).

*3 Dabei entstehen die manchmal leicht blutigen Schleimabsonderungen und blutigen Schorfe; eigentliches Nasenbluten tritt bei der (leichteren) Quecksilbervergiftung nicht auf. Nach Kunkels <Handbuch der Toxikologie> (Jena 1901) ist auch die gesunde Schleimhaut sehr empfindlich gegen Quecksilber; eine Sublimatlösung 1:50000 soll ätzend wirken, 1:100000 (d. h. 10µ/ccm) noch unangenehm empfunden werden.

*4 Ohne daß man den Umweg über eine <Beeinflussung des Nervensystems> (B.-H., S. 89) anzunehmen braucht.

*5 Das eigentliche Hirn ist bekanntlich gefühllos.

*6 Wie der Harndrang, der bei Überempfindlichen meist unter den ersten Erscheinungen auftritt, wo von der Einwirkung nennenswerter Quecksilbermengen auf die Nieren keine Rede sein kann.

*7 B.-H., S. 120 wird der häufige Harndrang zu <Läsionen des Zentralnervensystems> in Beziehung gebracht.

*8 Über die Versuche, die noch ergänzt werden sollen, wird an anderer Stelle ausführlicher berichtet werden.

*9 Bei dem sich die etwas größere Quecksilbermenge in der Nase usw. wohl durch den Quecksilbergehalt des Staubes (s. oben) erklärt. Natürlich ist auch beim Hund eine Quecksilberaufnahme aus den Aufenthaltsräumen nicht ausgeschlossen.

*10 Während die Versuche2, 3 und 6, 7 wieder zeigen, wie stark die Niere bei längerer Versuchsdauer das Metall zurück- und festhält.

*11 In der sich benachbarte Hirnteile an sich stark unterscheiden sollen; vgl. C. Vogt u. O. Vogt: Naturwiss. 23, 496 (1935).

*12 Klemenc, A. u. F. Pollak. Z. anorg. u. allg Chem. 115, 131 (1921).

*13 Die auch gegen andere Chemikalien empfindlicher ist (s. oben).

 


 

10. Diagnose und Behandlung der Quecksilbervergiftung

Aus den jetzt vorliegenden Erkenntnissen, so sehr sie auch noch der Vertiefung bedürfen, lassen sich doch schon manche Schlüsse bezüglich der Diagnose und der Behandlung der Quecksilbervergiftung ziehen.

<Wenn ein Kranker zum Arzt kommt mit Klagen über Mattigkeit, Vergeßlichkeit, Erregbarkeit und unerklärlichen Schnupfen. ..., so wird der Arzt an die Möglichkeit von Quecksilbervergiftung denken> (oder sollte es!). Diese Worte von His bleiben in Geltung. Der klinische Befund (außer den genannten Symptomen besonders: Kopfschmerzen, Depressionen, Katarrhe, leichtes Zahnfleischbluten, vereinzelte Durchfälle) ist das Wichtigste.

Wieweit Quecksilberbestimmungen im Harn und Blut diagnostische Schlüsse erlauben, wurde oben auseinandergesetzt. Sie versagen, wenn bereits eine stärkere Quecksilberüberempfindlichkeit besteht und dem Organismus nur wenig Quecksilber zugeführt wird; denn dann kann der Quecksilbergehalt des Harns (und erst recht des Blutes) trotz der Vergiftungserscheinungen normal sein. Derartige Fälle bereiten der Diagnose die größten Schwierigkeiten. Ein Test auf Quecksilberempfindlichkeit nach Art des von uns oben beschriebenen wird hier von Nutzen sein*1.

Von ausschlaggebender Bedeutung ist die Feststellung, ob überhaupt eine Aufnahme von Quecksilberdampf in Frage kommt. Beruf, Beschaffenheit der Arbeitsstätte, Vorhandensein von Amalgamzahnfüllungen lassen oft Schlüsse ziehen. Besteht der Verdacht, daß sich in Räumen, wo man es nicht ohne weiteres voraussetzen oder feststellen kann, Quecksilber befindet (Wohnung, Sprechzimmer usw.), so muß die Luftanalyse entscheiden. Die zuverlässige Bestimmung der hierbei meist in Betracht kommenden winzigen Quecksilbermengen erfordert größere Erfahrung*2.

Die sicherste Stütze der Diagnose ist das Zurückgehen oder Verschwinden der Beschwerden bei mehr oder minder vollständiger Ausschaltung neuer Quecksilberaufnahme.

Was die Behandlung der Quecksilbervergiftung anbetrifft, so bleibe es den Medizinern überlassen aus unseren Feststellungen ihre Schlüsse zu ziehen. Als Nichtmediziner möchte ich mich nicht noch mehr dem «Ne sutor supra crepidam!» aussetzen. Die Behandlung muß die Wiederherstellung und Kräftigung der oberen Luftwege ins Auge fassen*3 und gegen die Kopfbeschwerden und damit zugleich gegen die "psychischen" Störungen*4 so vorgehen wie bei entsprechenden, von anderen Ursachen bedingten Kopfbeschwerden. Erfreulicherweise handelt es sich hier um keine unheilbaren dauernden Schädigungen.

Auf etwaige Begleiterkrankungen (Nebenhöhlen, Zahnwurzeln, Kiefer, Nieren) ist zu achten.

Zwecklos sind Maßnahmen, die auf die <Entquecksilberung> des Blutes hinzielen, z. B. die manchmal empfohlene Injektion von Thiosulfat u. dgl., die das Quecksilber in unlösliches, unschädliches Sulfid verwandeln soll. Wenn der natürliche Quecksilbergehalt des Blutes überhaupt erhöht war, so sinkt er von selbst schnell wieder, sobald die weitere Quecksilberzuführung unterbunden wird. Daß letzteres sofort geschieht, ist die wichtigste und dringlichste Heilmaßnahme.

Durch gründliche Lüftung (dauerndes Offenhalten von Fenstern) läßt sich der Quecksilbergehalt der Luft in den Aufenthaltsräumen wesentlich herabdrücken, wenn auch natürlich niemals ganz beseitigen. Fingerzeige für die Sanierung quecksilberverseuchter Arbeitsräume und Vorschriften für die Einrichtung besonderer Quecksilberlaboratorien gaben wir früher*5. Die Wirksamkeit der Schutzmaßnahmen ist durch Luftanalysen zu kontrollieren.

Bei Quecksilberüberempfindlichkeit empfiehlt sich die Entfernung sämtlicher Amalgamzahnfüllungen (vgl. den nächsten Abschnitt).

Wird die Luft in Wohnräumen bei der Analyse quecksilberhaltig befunden, so muß die Quecksilberquelle gesucht (alte Spiegel; Quecksilber oder Sublimat im Fußboden) und unschädlich gemacht werden.

Der beste Rat bleibt: Die Quecksilbervergiftung durch größte Vorsicht beim Umgehen mit dem flüchtigen Gift zu vermeiden.


*1 Er ist natürlich nur vom Arzt (am besten Nasenarzt, der die auftretende Schleimhautreizung beurteilen kann) mit aller Vorsicht vorzunehmen. Wie erwähnt, bedarf es noch der Ausarbeitung einer allgemein anwendbaren Form.

*2 Auch die Niederschlagung des Quecksilbers aus der Luft (s. oben) läßt sich bei den bisherigen Verfahren nur von einem Fachmann ausführen. Wir sind um die Ausarbeitung eines Verfahrens bemüht, das diesen ersten Teil der Analyse auch dem Laien ermöglicht. Die spätere, eigentliche Quecksilberbestimmung wird allerdings Sache eines geübten Analytikers bleiben. Leider besitzen die für den Quecksilbernachweis in Luft vorgeschlagenen bequemen Farbreaktionen [z. B. mit Selensulfid; B. Nordlander: Ind. Chem. 19, 518 (1927)] nicht die nötige Empfindlichkeit.

*3 Viel Aufenthalt in frischer kühler Luft! Eine besondere Erkältungsgefahr, die die meisten Patienten bei ihren ewigen Katarrhen und in ihrer Depression fürchten, besteht nach meinen eigenen Erfahrungen durchaus nicht. Öfteres Ausspülen oder Aussprühen der Nase mit physiologischer Kochsalzlösung bringt Erleichterung.

*4 Beide lassen sich in nicht zu schweren Fällen vorübergehend mit den üblichen Mitteln gegen Kopfschmerz bekämpfen.

*5 9, vgl. auch19 (Jodkohle als Mittel für die Unschädlichmachung von Quecksilberdampf; Bezugsquelle: Auergesellschaft).

 


 

11. Zur Amalgamfrage

Es ist nicht meine Absicht, die Amalgamfrage hier noch einmal in aller Breite aufzurollen. Den ersten von Fleischmann medizinisch genau beobachteten Fällen, in denen Zahnfüllungen aus Kupfer- oder Silberamalgam die typischen Quecksilbervergiftungserscheinungen hervorriefen und diese nach Beseitigung der Füllungen schnell verschwanden, haben sich in der Zwischenzeit weitere angereiht *1. An diesen Tatsachen ist nicht zu rütteln.

Als Ergebnis der Auseinandersetzungen, die sich mit vielen Für und Wider an meine ersten Warnungen vor dem Quecksilber knüpften, brach man zunächst fast einhellig den Stab über dem Kupferamalgam. Später fand es trotz seiner augenscheinlichen Mangelhaftigkeit*2 unbegreiflicherweise doch wieder vereinzelte Fürsprecher. Heute scheint es nicht mehr verteidigt zu werden. Im <Merkblatt zur Verhütung von Quecksilbervergiftungen in der zahnärztlichen Praxis> (1934) steht: <Die Verwendung von Amalgampräparaten, deren Quecksilbergehalt vor der Verarbeitung durch Erhitzung freigemacht werden muß> (d. i. Kupferamalgam), <sollte in der modernen zahnarztlichen Praxis überhaupt nicht mehr stattfinden, da hierbei die größte Vergiftungsmöglichkeit*3 besteht>. Ein Erfolg!

Auch beim Silber- (Edel-) Amalgam darf ein Fortschritt insofern verzeichnet werden, als man vielerorts bei der Zubereitung vorsichtiger verfährt als früher und dabei Mischgeräte benutzt, die die Gefahr für den Zahnarzt verringern und eine gleichmäßigere Zusammensetzung des fertigen Amalgams bewirken. Aber auch das beste und sorgfältigst bereitete Silberamalgam gibt Quecksilber ab, um so mehr, je älter es ist*4. Hierüber liegt eine neuere sorgfältige Arbeit von N. Brecht-Bergen*5 vor, der die Zerstörung des vorschriftsmäßig hergestellten Amalgams in Lösungen von der Art der Mundflüssigkeit untersuchte. Er fand, daß das Zinn (der unedelste der Bestandteile) in Lösung geht, wodurch die Oberfläche der Füllung zermürbt und chemisch zersetzt wird. Auch beim besten Amalgam wurde eine merkliche Quecksilberflüchtigkeit festgestellt, die 10-15 % von derjenigen des reinen Quecksilbers betrug. Mit diesen Ergebnissen steht es in Einklang, daß die Ausscheidungen jedes Trägers von nennenswerten (auch Silber-)Amalgamfüllungen einen übernormalen Quecksilbergehalt zeigen und daß sich im Munde Quecksilberdampf nachweisen läßt. In letzterer Hinsicht teilten wir früher4 schon einen qualitativen Versuch mit. Wir haben jüngst auch einen quantitativen durchgeführt und fanden in der von einem jungen Mann, der mehrere gut aussehende, ältere Silberamalgamfüllungen trug, ausgeatmeten Luft 2,0µ Hg/cbm, d. i. eine Quecksilbermenge, die diejenige in vielen Laboratoriumsräumen übertrifft.

Es ist darum nicht zu rechtfertigen, wenn maßgebende Stellen noch neuerdings der Meinung Ausdruck geben, daß bei Silberamalgamfüllungen <ohne Quecksilberüberschuß>*6 eine Quecksilbervergiftung ausgeschlossen sei, oder wenn auf Grund unzulänglicher Analysenverfahren die Quecksilberabgabe aus Amalgamfüllungen glatt geleugnet wird*7.

Auch bei der Vergiftung durch Amalgamfüllungen wird, abgesehen von unmittelbaren Schädigungen in der Mundhöhle, hauptsächlich der in die oberen Luftwege gelangende, durch die Nase ausgeatmete Quecksilberdampf schädlich wirken. Die Erscheinungen sind dieselben wie bei sonstigen Quecksilberdampfvergiftungen, zunächst nervös-psychische Beschwerden, Schnupfen und Katarrh, meist bleiben sie auf dieser ersten Stufe stehen, weil die Quecksilberdampfabgabe selten Beträge erreicht wie etwa bei beruflichen Vergiftungen. Doch nehmen die Vergiftungen in einzelnen Fällen auch schwere Formell an *8. Ob es überhaupt zu einer Vergiftung kommt, hängt davon ab, ob im Einzelfall eine hinreichende Menge Quecksilberdampf durch die Nase geht*9. Dies wird wieder von der Art, der Größe und vor allem der Lage der Füllungen zum Atemstrom abhängen. Dadurch erklärt es sich, daß von der ungeheueren Zahl der Amalgamträger nur ein kleiner Prozentsatz der Quecksilbervergiftung verfällt, obwohl an sich alle Füllungen verhältnismäßig viel Quecksilber an den Organismus abgeben.

Auch hier spielt gewiß die allmählich steigende Quecksilberempfindlichkeit ihre Rolle. Sie wird sich oft wie bei anderen Quecksilbervergiftungen einstellen und bewirken, daß die Füllungen im Laufe der Zeit immer schädlicher wirken

Erwirbt ein Amalgamträger aus anderen Ursachen, z. B. durch seine Berufstätigkeit, eine Quecksilberüberempfindlichkeit, so können die Amalgamfüllungen, die ihn vorher nicht belästigten, auch ihrerseits zur Quelle von Beschwerden werden. Deshalb muß in solchem Falle zur Beseitigung der Amalgamfüllung geraten werden, und zwar im allgemeinen sämtlicher. Man wird selten mit Sicherheit oder auch nur mit Wahrscheinlichkeit feststellen können, welches gerade die schuldigen sind.

Wenn auch die Zahl der Amalgamvergiftungen nicht so groß ist, wie man vor näherer Kenntnis der dabei mitspielenden Umstände auf Grund der Quecksilberabgabe der Füllungen annehmen konnte, so ist sie doch beträchtlich genug, um den Wunsch zu rechtfertigen, daß bald ein anderes giftfreies, brauchbares und billiges Füllmittel gefunden werde.


*1 Vgl.4 6 10 22 und das zahnärztliche Schrifttum.

*2 In alten Kupferamalgamfüllungen sieht man oft schon mit bloßem Auge Quecksilbertröpfchen!

*3 Gemeint ist wohl in erster Linie: für den Zahnarzt. Auch die Patienten können diesen Fortschritt nur begrüßen.

*4 Auch in der ersten Zeit nach dem Setzen verliert die Füllung mehr Quecksilber (vgl. z. B. Borinki 1. c.).

*5 N. Brecht-Bergen: Z. Elektrochemie 39, 927 (1933).

*6 Dieser unbestimmte Ausdruck kann nur besagen: mit nicht mehr Quecksilber, als für die Herstellung einer guten Füllung nötig ist.

*7 Dent. Cosmos, Dezember 1931, 1145.

*8 Wie schon Fleischmann feststellte, bis zur Berufsunfähigkeit.

*9 Da es sich hier um eine unaufhörliche Wirkung (Tag und Nacht) handelt, werden Beschwerden schon durch kleinere Quecksilberkonzentrationen verursacht werden als bei Berufsvergiftungen.

 


Unsere bisherigen Veröffentlichungen.

 1 Stock, A.: Z. angew. Chem. 39, 461 (1926). -
 2 Stock, A. u. R. Heller: Z. angew. Chem. 39, 466 (1928). -
 3 Stock, A. u. E. Pohland: Z. angew. Chem. 39, 791 (1926). -
 4 Stock, A.: Z. angew. Chem. 39, 984 (1926). Med. Klin. 1926 II, 1209, 1250. -
 5 Stock, A. u. W. Zimmermann: Z. angew. Chem. 41, 547 (1928). -
 6 Stock, A.: Z. angew. Chem. 41, 663 (1928).-- Med. Klin. 1928 II. Zahnärztl. Mitt. 19, 370, 377, 390 (1928).
 7 Stock, A. u. W. Zimmermann: Z. angew. Chem. 41, 1337 (1928). Z. Getreidewes. 16, 6 (1929). -
 8 Stock, A. u. W. Zimmermann: Z. angew. Chem. 42, 429 (1929). -
 9 Stock, A. : Z. angew. Chem. 42, 999 (1929). -
10 Stock, A.: Zahnärztl. Rdsch. 38, 1709 (1929). -
11 Stock, A. u. W. Zimmermann: Biochem. Z. 216, 243 (1929). -
12 Stock, A.: Klin. Wschr. 1931 I, 454. -
13 Stock, A. u. H. Lux: Z. angew. Chem. 44, 200 (1931). -
14 Stock, A.: Naturwiss. 19, 499 (1931). -
15 Stock, A., F. Gerstner u. H. Köhle: Naturwiss. 20, 954 (1932). -
16 Stock, A., H. Lux, F. Cucuel u. H. Köhle: Z. angew. Chem. 46, 62 (1933). -
17 Stock, A., F. Cucuel u. H. Köhle: Z. angew. Chem. 46, 187 (1933).
18 Stock, A. u. F. Cucuel: Ber. dtsch. chem. Ges. 67, 122 (1934). -
19 Stock, A.: Z. angew. Chem. 47, 64 (1934). - Vgl. hierzu: Pütter, K. E. u. M. Hirsch: Z. angew. Chem. 47, 184   (1934). -
20 Stock, A.: Z. anorg. u. allg. Chem. 217, 241 (1934). -
21 Stock, A. u. F. Cucuel: Natuwiss. - 22, 390 (1934). -
22 Stock, A. u. F. Cucuel: Z. angew. Chem. 47, 641 (1934). -
23 Stock, A. u. F. Cucuel: Z. angew. Chem. 47, 801 (1934). -
24 Stock, A.: Naturwiss. 23, 453 (1935).

 

Prof. Dr. Alfred Stock, Berlin-Dahlem, Wachtelstr. 6 a.