Amalgam-Informationen
© 1999 Dr. S. Eyhorn. Eingescannt im Juli 1999. Quelle: Medizin. Klinik Nr. 32/33; 22 (1926), 1209-1212 und 1250-1252

Medizinische Klinik

Wochenschrift für praktische Ärzte

Organ der Berliner Medizinischen Gesellschaft


Nr.32/1209

Die Gefährlichkeit des Quecksilberdampfes
und der Amalgame *)

Von Prof. Dr. Alfred Stock, Berlin-Dahlem.

Die Gefährlichkeit des metallischen Quecksilbers ist keine neue Entdeckung. Sie war schon im Altertum bekannt (Anwendung von Amalgam zur Vergoldung) und spielte im Mittelalter eine besondere Rolle, seitdem man den morbus gallicus mit Quecksilber bekämpfte; die Menschheit litt unter der Geißel der Venus und des Merkurs. Seit langem kennt man auch schon die tückischen nervösen und seelischen Wirkungen des flüchtigen Metalls. Nervis inimicissimus wird es bereits um das Jahr 1000 in alchemistischen Schriften genannt; und ebendort wird gesagt, daß es animae gravitatem facit d. h. auf gut deutsch: psychische Depressionen verursacht.

Quecksilberbergbau und -verhüttung, die Feuervergolderei, die Herstellung der Zinnamalgamspiegel und manche andere Betriebe verursachten zahlreiche gewerbliche Quecksilbervergiftungen. Ein erschütterndes Bild von der Hölle, die die Spiegelfabrikation früher für die Arbeiterschaft bedeutete, gibt A. Kußmauls bekanntes, umfangreiches und gründliches, auch das ältere Schrifttum behandelndes Werk Untersuchungen über den konstitutionellen Merkurialismus und die konstitutionelle Syphilis (Würzburg 1861). Darin finden sich Hunderte von Quecksilbervergiftungsfällen beschrieben. Einerseits schwerste Erkrankungen mit Verblödung, mit Zittererscheinungen bis zur Gebrauchsunfähigkeit der Gliedmaßen mit Dauerdurchfällen und mit tödlichem Ausgange; andererseits auch die chronische (in medizinischem Sinne) leichte Vergiftung, von Kußmaul habitueller Merkurialismus genannt, mit ihren vielartigen Merkmalen: seelischen und Gemütsveränderungen (Erethismus mercurialis), Reizbarkeit, Unrast, Benommenheit, Schwindel, Kopfschmerzen, rheumatischen Schmerzen, chronischen Halsentzündungen, Ohrensausen, Schwerhörigkeit, Sehstörungen, Mundentzündungen, Losewerden und Ausfallen der Zähne usw.

Noch vor einem Menschenalter kannte und fürchtete man die Vergiftung durch Quecksilberdampf allgemein. Ein Apotheker schrieb mir kürzlich, als er in seiner Lehrzeit einmal im Arbeitsraum ein Quecksilberthermometer zerbrochen hatte, sei sein Prinzipal ganz aus dem Häuschen geraten und habe sofort den Fußboden des Raumes herausreißen und erneuern lassen. Auch die Wissenschaftler, Physiker, Chemiker u. dgl., befleißigten sich im allgemeinen peinlicher Vorsicht beim Umgehen mit dem gefährlichen und doch für sie so unentbehrlichen Metall.

Im Laufe der neuesten Zeit ist die ungeheure Gefährlichkeit des metallischen Quecksilbers mehr und mehr in Vergessenheit geraten. Zwar steht nach wie vor in den Büchern, daß das Quecksilber ein starkes Gift ist und daß man mit ihm vorsichtig umgehen muß, in der Praxis aber wurde man zu leichtsinnig. Seit die Anwendung des Amalgams zur Spiegelherstellung verboten, die Feuervergoldung durch die galvanische ersetzt war und die Quecksilber-Schmierkur in den Hintergrund trat, gehört die deutliche starke Quecksilbervergiftung, wenn man Quecksilberminen und -hütten 1) ausnimmt, zu den Seltenheiten. Die Erscheinungen der Quecksilbervergiftung, vor allem die ersten wenig eigenartigen, sind der großen Mehrzahl der Ärzte nicht mehr geläufig.

Und doch sind leichte (allerdings für die Betroffenen keineswegs leichte!) chronische Quecksilbervergiftungen auch heute durchaus nicht selten, ja, sogar vielleicht sehr weit verbreitet; sie werden aber fast niemals erkannt, sondern als Neurasthenie, als Erkrankungen der Nase und ihrer Nebenhöhlen, als Magenleiden, als Hirnhautentzündung u. dgl. angesprochen und — natürlich erfolglos — behandelt.

Meine Mitarbeiter und ich, die wir bei unserer wissenschaftlichen chemisch-experimentellen Arbeit besonders viele Quecksilber-Apparaturen gebrauchen, haben die schleichende Quecksilbervergiftung am eigenen Leibe erfahren. Ein ausführlicher Bericht hierüber erschien vor kurzem an anderer Stelle 2). Die Einzelheiten möge man dort nachlesen. Hier sei nur das Wesentlichste wiederholt.

Ursache der Erkrankung war ein dauernder geringer Quecksilbergehalt der Luft in den Arbeitsräumen 3), hervorgerufen durch Verdampfen nicht ganz abgeschlossener Quecksilberflächen und gelegentlich verspritzten Quecksilbers, was sich ja auch bei sauberstem Arbeiten mit dem leichtbeweglichen Metall niemals ganz vermeiden läßt. Selbst in Räumen, wo sich der Analyse zufolge 4) nur tausendstel und hundertstel Milligramm Quecksilber im Kubikmeter Luft befanden, wo also täglich höchstens einige hundertstel Milligramm dem Körper durch die Lungen zugeführt werden konnten, zeigten sich nach längerer Zeit, mehreren Monaten bis Jahren, die Erscheinungen der schleichenden Quecksilbervergiftung. Die genannte Menge ist ein ganz kleiner Bruchteil derjenigen (12 mg Quecksilber im Kubikmeter), die die Luft aufnehmen kann, wenn sie sich bei Zimmertemperatur mit Quecksilberdampf sättigt.

Auch bei uns wurde die wahre Quelle unserer Beschwerden jahrelang, bei mir selbst sogar zwei Jahrzehnte lang, selbst von vortrefflichen Ärzten nicht erkannt. Man suchte sie bei mir in einer Erkrankung der Nase und unterwarf diese, ohne Erfolg, blutigen Operationen, Brennen, Ätzen usw. Ein Teil meiner Mitarbeiter wurde auf Nebenhöhlenentzündungen behandelt. Wie uns erst ein Zufall vor etwa 2 Jahren die Augen über den gemeinsamen Ursprung unserer Beschwerden öffnete, ist in der erwähnten Abhandlung beschrieben.

Daß es sich wirklich um Quecksilbervergiftungen handelte, ist zweifellos. Wir wiesen das Quecksilber sowohl in der Laboratoriumsluft wie in unserem Harn und Speichel nach. Seitdem wir durch besondere Vorsichtsmaßnahmen, vor allem ununterbrochenes ergiebigstes Durch- und Entlüften der Arbeitsräume, dafür sorgen, daß die Luft ganz oder doch fast ganz quecksilberfrei ist 5), sind alle Krankheitserscheinungen verschwunden oder doch in deutlichster Rückbildung begriffen.

Auf Grund der Beobachtungen an meinen Mitarbeitern und mir lassen sich die Beschwerden, wie sie bei derartigen ganz langsamen Quecksilbervergiftungen auftreten, folgendermaßen schildern:


*) Nach einem am 7. Juli 1926 vor der Berliner Medizinischen Gesellschaft gehaltenen Vortrage.

1) Bezüglich der auch heute noch sehr schlimmen Verhältnisse an diesen Orten vgl.: L.Teleky, Die gewerbliche Quecksilbervergiftung, Berlin 1912.

2) Zschr. f. angew. Chemie 1926. 39, 461. Sonderdrucke sind vom Verlag Chemie, Leipzig, Bosestr. 2, zu beziehen.

3) Wir sind nicht etwa der Meinung, daß der Ursprung in Amalgamfüllungen zu suchen war, wie Herr G. Haber (Zahnärztl. Rundschau 1926, 35, 395), annimmt. Damit erledigen sich die von Herrn Haber a. a. 0. aufgeworfenen Fragen.

4) Beschreibung von uns erprobter Verfahren zum Nachweis und zur Bestimmung kleiner Quecksilbermengen, bis hinab zu Bruchteilen eines zehntausendstel Milligramms: Zschr. f. angew. Chemie 1926, 39, 466 u. 791.

5) Da wir auf die Anwendung des Quecksilbers nicht verzichten können, ist es kaum zu erreichen, daß die überaus empfindliche Quecksilberprobe völlig negativ ausfällt.

 

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Den Anfang machen: leichte, besonders geistige Abspannung, schwache Benommenheit, eine eigentümliche Nervosität und Kribbeligkeit, Unrast und Herabsetzung der geistigen Leistungsfähigkeit, auch des Gedächtnisses. Alle diese Erscheinungen — dasselbe gilt auch für sämtliche weiterhin beschriebenen — treten in Pausen und mit wechselnder Stärke auf. Stunden oder Tagen besseren Befindens folgt, manchmal ganz plötzlich einsetzend, Verschlechterung des Zustandes. Sehr bald kommen Beschwerden in den oberen Atmungswegen hinzu: das Gefühl verstopfter Nase, Neigung zu Schnupfen.

Die Erscheinungen vermehren sich allmählich: sich verstärkende, schließlich fast unerträglich werdende Kopfschmerzen (meist über den Augen), starke Benommenheit und Schwindelgefühl, gelegentlich Unscharf- und Doppelsehen, gesteigerte Mattigkeit, Unlust und Unfähigkeit zu jeder, besonders geistiger Arbeit, vermehrtes Schlafbedürfnis, dabei infolge dauernder innerer Unruhe schlechter Schlaf und Schlaflosigkeit, weitere Verringerung des Gedächtnisses bis zu fast vollständiger Gedächtnislosigkeit, schwere, beinahe ununterbrochene Katarrhe, besonders des Nasenrachenraumes, mit eiterigen, oft blutigen Absonderungen und höchst lästigen Schorfbildungen, häufige Halsentzündungen, Ohrenschmerzen mit Herabsetzung des Hör- und Riechvermögens, Speichelfluß, unangenehm-fader Geschmack im Munde (von manchen als ,,metallisch" empfunden), Entzündungen der Augen, der Mundschleimhaut, Bläschen, empfindliche und wunde Stellen an der Zunge, am Gaumen, am Zahnfleisch, an der Innenseite der Lippen und der Wangen, Rötung des Zahnfleisches und leichtes Bluten beim Zähneputzen, Zahnschmerzen, Zurücktreten des Zahnfleisches und Bildung von ,,Taschen", vorübergehende Lockerung von Zähnen, Zittern der gespreizten Finger und einzelner Gesichtsmuskeln, z. B. in der Nähe der Augen, gelegentliche Erschwerung des Schluckens und Sprechens, nervöse Herzbeschwerden, Schmerzen an verschiedenen Körperstellen, Reißen im Kopf, Rücken und Gliedern, Appetitlosigkeit, Störungen der Magen- und Darmtätigkeit, vereinzelte Durchfälle, plötzlicher Harndrang, Schmerzen in der Lebergegend, Bläschenausschläge, z. B. an den Innenseiten der Arme und Oberschenkel, Neigung zur Bildung von Pickeln. Beschwerden (z. B. Hämorrhoiden, Furunkel), bei denen man zunächst keinen Zusammenhang mit den übrigen vermutet hätte, erwiesen sich als eine Teilerscheinung der Quecksilbervergiftung, indem sie bei der Gesundung zugleich mit den übrigen Merkmalen verschwanden.

Für den geistig Arbeitenden wird der Zustand geradezu niederschmetternd: das Gedächtnis versagt, es wollen keine Gedanken kommen, man kann kaum frei sprechen, nicht mehr rechnen, nur mit Mühe einen Brief schreiben, läßt Buchstaben und Worte aus, verstößt gegen die Rechtschreibung u. dgl. mehr.

Höchst eigentümlich ist der Erethismus, die für die Quecksilbervergiftung so bezeichnende Veränderung im Wesen. Lebenslust, Humor, Freude an Geselligkeit schwinden. Man ärgert sich über jede Kleinigkeit, geht den Menschen aus dem Wege, scheut sich vor der unbedeutendsten Schwierigkeit, vor neuen Aufgaben, vor eigener Stellungnahme, wird unsicher in seinem Urteil, kurz: man verliert das höchste Glück der Erdenkinder, die Persönlichkeit.

Dies alles sind, es sei noch einmal betont, Erscheinungen der ,,leichten", durch langdauernde Einwirkung winziger Quecksilbermengen hervorgerufenen Vergiftung. Wo größere Mengen Quecksilber eingeatmet werden, treten die stärkeren bekannten körperlichen Beschwerden auf, wie Tremor, Mundgeschwüre, Verlust von Zähnen, starke Verdauungsstörungen usw. Darauf sei hier nicht eingegangen.

Vielleicht besteht ein Zusammenhang zwischen der Reizung und Entzündung der oberen Luftwege und den nervösen und geistigen Beschwerden. Dafür sprechen einige Beobachtungen. Fast immer ist die Verschlechterung des Gemütszustandes und der geistigen Leistungsfähigkeit auch mit einer Verstärkung der katarrhalischen Erscheinungen verbunden und umgekehrt. Bei mir schwanden die geistigen Beschwerden für Stunden, wenn der Arzt bestimmte Stellen der Schleimhaut der oberen Nase mit Kokain behandelte und zum Abschwellen brachte; in wenigen Minuten vollzog sich dann ein ganz auffallender Wechsel im Allgemeinbefinden: Gedächtnis, Arbeitslust, gute Laune erschienen wieder, leider eben nur als flüchtige Gäste.

Gibt es eine Immunität gegenüber dem Quecksilberdampf, wie neuerdings, z. B. aus Kreisen der Amalgamfabrikanten 6), behauptet wird? Angeblich sollen Arbeiter, die ohne Schutzmaßregeln jahrzehntelang starker Einwirkung von Quecksilber ausgesetzt waren, dauernd gesund geblieben sein. Ich bezweifle, daß diese Angaben genauerer Nachprüfung standhalten. Teleky schreibt (S. 93 in seinem oben angeführten Werke), daß ,,nur selten ein Arbeiter dauernd von Quecksilbervergiftung verschont bleibt." Man muß bedenken, daß der Handarbeiter die ersten geistigen und seelischen Wirkungen des Quecksilbers im allgemeinen weniger schwer empfinden wird als der geistig Arbeitende und daß Jahre vergeben können, ehe überhaupt merkliche Erscheinungen auftreten. Starke körperliche Bewegung und die dadurch bewirkte Beschleunigung des Stoffwechsels dürften günstig wirken. Auch können die Luftströmungsverhältnisse im Arbeitsraum zufällig so sein, daß einer oder der andere Arbeiter dem Quecksilberdampf nicht ausgesetzt ist, obwohl sich sonst viel Quecksilber im Raume befindet. Von meinen sämtlichen Mitarbeitern (etwa ein Dutzend) ist nicht einer von der Wirkung des Quecksilbers verschont geblieben. Natürlich zeigten sich von Person zu Person Verschiedenheiten in der Schnelligkeit der Erkrankung und im Überwiegen bestimmter Beschwerden.

Vergiftung und Wiederherstellung scheinen sich in ihrer Dauer zu entsprechen. Je kürzer die Einwirkung des Quecksilbers war, um so schneller erfolgt die Gesundung. Dauerte jene sehr lange, so braucht auch diese sehr viel Zeit. Diejenigen meiner Mitarbeiter, die mein Laboratorium verließen und gar nicht mehr mit Quecksilber in Berührung kamen, sind im Laufe von 1—2 Jahren fast alle Beschwerden losgeworden und haben ihre frühere Leistungsfähigkeit voll wiedererlangt. Allerdings hatten auch sie noch lange unter Rückfällen geistiger und körperlicher Art (besonders Katarrhen und Mundentzündungen) zu leiden. Diejenigen, die die Arbeiten bei mir fortsetzten, wobei, wie gesagt, die Benutzung des Quecksilbers nicht zu umgehen ist, unterliegen auch heute noch, nach mehr als 2 Jahren, deutlichen, immer schwächer werdenden Nachwirkungen der Vergiftung. Man scheint damit rechnen zu müssen, daß Jahre dazu gehören, damit der Körper das in Jahren aufgenommene Quecksilber wieder ausscheidet. Augenscheinlich bedingt eine vorhandene Quecksilbervergiftung besondere Empfindlichkeit gegenüber weiterer Einwirkung von Quecksilber, wie wir bei gelegentlichen Versehen in der Lüftung der Arbeitsräume erfuhren. Dies ist ja auch nicht erstaunlich, da, wie die langsame Entwicklung der schleichenden Erkrankung zeigt, die vom Körper aufgenommene Quecksilbermenge über einen Schwellenwert hinausgehen muß, ehe Erscheinungen zu merken sind. Dieser Schwellenwert bleibt sicherlich auch während der Genesung noch lange überschritten, so daß jede zusätzliche Quecksilbermenge das Befinden verschlechtert. Auch heute noch ist bei uns im Harn und Speichel Quecksilber nachzuweisen. Die Menge wechselt. Daß dem Körper einverleibtes Quecksilber, ähnlich wie es auch beim Blei der Fall ist, sich eine zeitlang der Ausscheidung und dem Nachweis entzieht, um dann plötzlich wieder in Erscheinung zu treten, ist bekannt und wurde von uns bestätigt. Vermutlich hängt der auffallende Wechsel im Befinden mit diesem Umstande zusammen.

Leider scheint es bisher kein Mittel zu geben, um die Wiederherstellung zu beschleunigen und das vom Körper aufgenommene Quecksilber zu entgiften. Die bei Quecksilbervergiftung empfohlenen Maßnahmen, harntreibende und abführende Mittel, heiße Bäder, Natriumjodidkuren, auch Einnehmen schwefelhaltiger Verbindungen (thiosaurer Salze), von denen man eine Überführung des Quecksilbers in ungefährliches Quecksilbersulfid erhoffen durfte, förderten die Heilung nicht merklich. Bewegung in frischer Luft ist am ehesten geeignet, die subjektiven Beschwerden etwas zu verringern. Die lästige Schorfbildung in der Nase läßt sich durch Nasenspülungen erträglicher machen. Bei mir brachten längerer Aufenthalt im Hochgebirge und auf See kaum größere Fortschritte in der Wiederherstellung, als sie wohl sonst gekommen wären. Vorläufig muß man es der Zeit überlassen, des Störenfriedes im Körper Herr zu werden. Sie scheint schließlich alle Beschwerden zum Schwinden zu bringen, wenn auch unter häufigen, immer wieder recht niederdrückend wirkenden Rückfällen. Voraussetzung ist natürlich, daß dem Körper gar kein neues Quecksilber zugeführt wird.

Unsere Erfahrungen ließen bereits ahnen, daß es außer uns noch so manches Opfer der Quecksilbervergiftung geben würde. Quecksilber wird ja in Wissenschaft und Industrie vielfach benutzt und fast nirgends mit der so dringend gebotenen Vorsicht behandelt. Tatsächlich sind die Verhältnisse weit schlimmer, als wir vermutet hatten. Nach Erscheinen meiner Veröffentlichung über die Gefähr-


6) Vgl. z.B. G.Pinkus, Zschr. f. angew. Chemie 1926, 39, 787.

 

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lichkeit des Quecksilberdampfes ging mir eine Flut schriftlicher und mündlicher Mitteilungen zu, die von chronischen Quecksilbererkrankungen verschiedenen Grades berichteten, fast immer mit denselben, uns allzu genau bekannten Erscheinungen und in ihrer Ursache nicht erkannt. Vielfach wurde berichtet, daß die Beschwerden nach Aufhören der Beschäftigung mit Quecksilber langsam wieder geschwunden waren.

Die größte Zahl derartiger Mitteilungen stammte natürlich aus den Kreisen meiner engeren Fachgenossen, von wissenschaftlichen und industriellen Chemikern, mit denen ich persönlich bekannt war oder auf Versammlungen zusammentraf. Ich weiß heute annähernd 50 wissenschaftlich arbeitende Chemiker, die an chronischer Quecksilbervergiftung leiden oder gelitten haben; unter ihnen finden sich in der Wissenschaft wohlbekannte Namen. Auch in der chemischen Industrie ist, wie sich ergab, die Quecksilbervergiftung recht verbreitet. Natürlich kann es nur ein kleiner Teil aller Erkrankungen sein, von denen ich erfuhr. Viele weitere Fälle dürfte es auch bei den Physikern geben, die durchschnittlich vom Quecksilber noch mehr Gebrauch machen als die Chemiker und damit oft sehr sorglos umgehen. Auch aus anderen technischen, aus ärztlichen und zahnärztlichen, aus Lehrerkreisen berichtete so mancher Brief von Quecksilbererkrankung. Der Inhalt war fast immer derselbe: ,,Als ich Ihre Veröffentlichung las, fiel es mir wie Schuppen von den Augen, und ich weiß nun endlich woran ich leide oder litt; von meinen Ärzten ist die Ursache nicht erkannt worden usw."

Als Quelle der Quecksilberdampf-Vergiftungen ergab sich außer verspritztem, in Ritzen des Fußbodens nachgewiesenem Quecksilber Arbeiten mit Quecksilberunterbrechern, mit Quecksilbergleichrichtern, mit quecksilbergedichteten Rührvorrichtungen, Ozonapparaten, Quecksilberluftpumpen und mit anderen Quecksilberapparaturen, Benutzung von Alkaliamalgam bei chemischen Reaktionen, längerer Aufenthalt in Räumen, in denen früher ein Thermometer oder Barometer zerbrochen war usw. In der Mehrzahl der Fälle läßt sich annehmen, daß der Quecksilbergehalt der eingeatmeten Luft ähnlich gering war wie in unserem Laboratorium.

Aus mancher Mitteilung sprach die Verzweiflung des Betroffenen über seinen traurigen, an der Arbeit hindernden, die Ausfüllung der Stellung erschwerenden Zustand.

Beispielsweise seien einige Stellen aus Briefen wiedergegeben, wobei ich mich auf solche beschränke, die von bekannten Wissenschaftlern herrühren:

Dr. H., Chemiker, schreibt: Im November 1924 schaffte sich unser Institut die Apparatur zur exakten Gasanalyse nach Ott an, in der als Sperrflüssigkeit Quecksilber benutzt wird, und berichtet über verschiedene an sich selbst und seinen Mitarbeitern dadurch hervorgerufene Quecksilbervergiftungen, z. B.: Dr. G., damals wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut, litt während der Zeit, als wir mit Quecksilber arbeiteten, und auch nachher an dauernder Müdigkeit. Er klagte über Gedächtnisschwäche, hatte Zahnbeschwerden (blutendes Zahnfleisch). Herrn Dr. G. traf ich bei der Kieler Versammlung. Die Beschwerden sind bei ihm jetzt ziemlich verschwunden. Er ist vor einem Jahre bei uns ausgeschieden.

Dr. S., jetzt Direktor eines Forschungsinstituts, früher in einer chemischen Fabrik, berichtet über eine Quecksilbervergiftung, die er sich bei der Benutzung von quecksilbergedichteten Rührwerken zugezogen hatte: Anfangs trat leichter Kopfschmerz ein, der mit immer kürzer werdenden Pausen heftiger auftrat. Dazu kam eine große Unruhe, die sich immer fühlbarer bemerkbar machte. Als besonders charakteristisch sehe ich auch die große Neigung zu Erkältungen der Atmungsorgane und Entzündungen des Nasen- und Rachenraumes an. Ein von mir zu Rate gezogener Arzt schob die Erscheinungen auf eine verschleppte Grippe. Die Bildung von Bläschen und wunden Stellen auf der Zunge, namentlich auf ihrem unteren Ende . . . trat vor etwa 3 Jahren auf. Diese Erscheinung war besonders quälend. Der Arzt erklärte auch diese Erscheinung als die Folge einer Grippe . . . Bluten der Zähne beim geringsten Putzen . . . Zu den eben geschilderten Erscheinungen trat dann noch eine stetig wachsende Abgespanntheit, Schmerzen an den verschiedensten Körperstellen und ein Schlafbedürfnis hinzu. Dr. S. erzählt weiter von einem Fabrikkollegen, der ebenfalls an Quecksilbervergiftung leidet. Was mich selbst betrifft, so bemerke ich, abgesehen von dem Bluten des Zahnfleisches und einer gewissen Benommenheit im Kopf, ein deutliches Besserwerden, seitdem ich aus den Diensten der . . . ausgeschieden bin.

Geheimrat Kolle, der Direktor des Instituts für experimentelle Therapie in Frankfurt, berichtet ebenfalls über eine eigene und andere Quecksilbervergiftungen. Ich habe . . . jahrelang an ganz ähnlichen Erscheinungen gelitten, wie Sie sie beschreiben. Neben ziemlich schweren Darmstörungen waren es vor allen Dingen nervöse Erscheinungen ganz ähnlich den von Ihnen geschilderten. Ich bin mir lange nicht darüber klar gewesen, was die Ursache meiner Gesundheitsstörungen war . . . später wieder vollkommen gesundet, während ich damals den Eindruck hatte, an einer ziemlich schweren Krankheit zu leiden . . . Ganz ähnlich ging es auch verschiedenen meiner Mitarbeiter.

Aus einem Briefe des Laryngologen Prof. G. in Berlin: Mein Patient, Chemiker eines großen Unternehmens hier, litt an allgemeiner Mattigkeit und schwerer Entzündung der Schleimhaut in der Nähe der Zähne sowie schwerem Rachenkatarrh. Über Kopfschmerzen hat er weniger geklagt, doch war in seinem ganzen Wesen eine sehr starke Veränderung zu bemerken. Während er im Anfang der Behandlung noch gern sein Glas Moselwein trank, wurde er nach einigen Monaten lebensunlustig und schwermütig. Auf meine Veranlassung hatte er eine erste zahnärztliche Autorität aufgesucht . . . Der Patient wurde dann von uns in verschiedene Badeorte geschickt, erkrankte jedoch jedesmal wieder, wenn er in Berlin war. Schließlich kam er selbst auf den Gedanken, sein Laboratorium nachsehen zu lassen, und fand im Fußboden ziemliche Mengen Quecksilber. Nachdem dieser Übelstand beseitigt war, erholte er sich und zwar sowohl in bezug auf die Veränderung der Schleimhäute der oberen Luftwege wie vor allen Dingen auf sein Allgemeinbefinden außerordentlich schnell.

Schließlich noch ein Auszug aus der Veröffentlichung eines jüngeren Kollegen 7), der viel mit Quecksilberapparaturen arbeitet:

Die Erscheinungen, unter welchen man leidet, sind (in der Veröffentlichung von Stock) so treffend geschildert, daß es sicher denjenigen Lesern, die an einer Quecksilbervergiftung zu leiden haben, so ergangen ist wie mir: sie haben ihre eigene Krankheitsgeschichte auf das genaueste wiedergegeben gefunden . . . . ständiger Gast in den Kliniken, um mich wegen völlig unerklärlicher Beschwerden im Hals und im Kehlkopf untersuchen zu lassen. Zu diesen gesellten sich allmählich, genau wie bei Prof. Stock, schier unerträgliche Kopfschmerzen, Ohrenschmerzen und nahezu alle Leiden, welche von Prof. Stock beschrieben werden. Auf den Gedanken, daß alle diese Erscheinungen auf eine Quecksilbervergiftung zurückzuführen seien, kamen weder meine Ärzte noch ich; erst die im Mund auftretenden, den Ärzten bekannten, charakteristischen Bläschen führten zur richtigen Diagnose . . . Die Anzeichen der schleichenden Quecksilbervergiftung scheinen mir nicht genügend bekannt zu sein. So litt ein mir bekannter Arzt bereits längere Zeit unter den von Prof. Stock beschriebenen Erscheinungen, ohne ihren Grund zu kennen. Erst der Artikel von Prof. Stock erweckte in ihm die Überzeugung, daß auch er unter einer Quecksilbervergiftung litt; seine Annahme fand eine Bestätigung in der einige Zeit später beobachteten Bläschenbildung in seiner Mundhöhle. Die Vergiftung des betreffenden Herrn ist zweifellos auf seine gasanalytischen Arbeiten zurückzuführen, bei denen er dauernd mit Quecksilber zu tun hat . . . Auffallenderweise scheint der Quecksilberdampf bei Frauen besonders auf die Nieren einzuwirken. Zwei Mitarbeiterinnen erkrankten unter Nierenreizungen; ein dritter Fall ist mir außerhalb unseres Instituts bekannt.

Dies möge genügen. Ich könnte die Reihe erheblich verlängern.

Jedenfalls ist erwiesen, daß das längere Einatmen auch außerordentlich kleiner Quecksilbermengen (täglich hundertstel oder tausendstel Milligramm) Gesundheitsstörungen hervorruft, die in ihren Anfängen, sehr wenig spezifisch, hauptsächlich das Nervensystem und die oberen Atmungswege (vor allem den Nasenrachenraum; dies wird in den Zuschriften immer wieder betont) betreffen und zunächst ohne die meist als besonders kennzeichnend für die Quecksilbervergiftung angesehenen Mundentzündungen auftreten können. Die Erscheinungen stimmen bei allen betroffenen Personen im wesentlichen überein. Gibt es Immunität gegenüber dem Quecksilber, so ist sie selten.

Wegen seiner Flüchtigkeit, Geruchlosigkeit, der schleichenden Wirkung, der jahrelangen Nachwirkung, der man bis heute noch hilflos gegenübersteht, ist das metallische Quecksilber eines der tückischsten Gifte. Ohne Zweifel hat es der Wissenschaft sehr geschadet, indem es die Arbeitsfähigkeit so manches Forschers herabsetzte, ohne daß dieser es ahnte 8). Bestimmt treten zu den Fällen deutlicher Quecksilbervergiftungen noch viel zahlreichere hinzu, bei denen die Wirkung des Quecksilbers sich auf die allererste Stufe, eine Herabsetzung der geistigen Leistungsfähigkeit ohne jede weitere Nebenerscheinung, beschränkt und bisher wohl niemals auf die wahre Ursache zurückgeführt, sondern, wenn überhaupt bemerkt, durch Überarbeitung, Ermattung der Nerven, Alter u. dgl. erklärt wurde.

Aber die Gefährlichkeit des Quecksilbers geht nicht allein die Wissenschaft an. Auch andere Kreise sind von ihr bedroht. Man denke z. B. an die Quecksilberthermometer. Manche rätselhafte Erkrankung dürfte darauf zurückzuführen sein, daß in einem bewohnten Raum ein Quecksilberthermometer zerbrochen wurde und seinen flüssigen Inhalt als Staub in Fugen und Ritzen verstreute. Die Quecksilbermenge eines Thermometers reicht vollständig hin, um der Luft jahrelang einen schädlichen Quecksilbergehalt zu verleihen. Was ist fast jedes Fieberthermometers früheres


7) L. W o l f, Zschr. f. augew. Chemie 1926, 39, 789.

8) Daß auch F a r a d a y vermutlich ein ahnungsloses Opfer der Quecksilbervergiftung gewesen ist, habe ich in meiner ersten Mitteilung dargelegt.

 

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oder späteres Ende? Es gleitet eines Tages beim Herunterschleudern seines Quecksilberfadens aus der Hand und zerbricht; und dieses ereignet sich zumeist gerade in einem Schlafzimmer. Die möglichen Folgen kann man sich ausmalen: Mattigkeit, Unruhe, Benommenheit, Kopfschmerzen, Katarrhe, Verdauungsstörungen, auf deren Ursache kaum jemand kommen wird, zumal, wenn das Zerbrechen des Thermometers durch einen Vorbewohner des Raumes geschah. Klarheit darüber, ob in derartigen Fällen die Ursache von Beschwerden im Quecksilber zu suchen ist, kann nur die leider nicht ganz einfache Luftanalyse 9) oder die Auffindung von Quecksilbertröpfchen (Lupe) in den Ritzen der Dielen usw. erbringen.

Ungleich wichtiger ist die allgemein verbreitete Anwendung des Quecksilbers in Form von Amalgamen für Zahnfüllungen. Amalgame sind bekanntlich Legierungen von Quecksilber mit anderen Metallen, wobei chemische Verbindungen und sogenannte feste Lösungen auftreten können, in denen das Quecksilber lose gebunden ist. Anfangs benutzten die Zahnärzte nur Kupferamalgam. Es kommt fertig in den Handel, wird vorn Zahnarzt über einer Flamme erwärmt, wobei es erweicht; im Zahn erhärtet es schnell. Die später eingeführten sogenannten Silberamalgame werden anders verarbeitet. Die käufliche Metallegierung (zu 1/3-2/3 aus Silber, aus einigen Hundertsteln anderer Bestandteile, im übrigen aus Zinn bestehend; bei Platin- oder Goldgehalt Platin- oder Goldamalgam genannt) enthält noch kein Quecksilber. Sie wird vom Zahnarzt mit Quecksilber angerührt; es entsteht ein plastisches Amalgam, das ebenfalls nach kurzer Zeit hart wird. Wieviel Quecksilber für die Herstellung dient, liegt innerhalb weiter Grenzen im Gutdünken des Zahnarztes, der das überschüssige Quecksilber hinterher aus der weichen Masse herausdrückt oder herauspreßt. Der Quecksilbergehalt fertiger Füllungen kann darum stark schwanken.


9) Vgl. die in Anmerkung 4 angeführten Veröffentlichungen.

 


Nr.33/1250

 

Die Gefährlichkeit des Quecksilberdampfes
und der Amalgame

Von Prof. Dr. Alfred Stock, Berlin-Dahlem.

 

(Schluß aus Nr. 32.)

Das Füllen mit Amalgamen gefährdet zunächst die Zahnärzte selbst, weil bei der üblichen Arbeitsweise Quecksilber verdampft und sich der Luft beimischt. Das Kupferamalgam gibt, wenn es erwärmt wird, besonders, sobald man die Temperatur höher steigert, als es nötig wäre, erhebliche Mengen Quecksilber in Dampfform ab, die sich als feiner Nebel in der Nachbarschaft niederschlagen können. Beim Anrühren des Silberamalgams bleibt, obgleich dies den Vorschriften durchaus widerspricht, das überflüssige herausgerückte Quecksilber oft längere Zeit offen im Arbeitsraum oder tropft gar auf die Erde. Die Zahnärzte verfahren sehr verschieden sorgfältig, offenbar vielfach aber zu unvorsichtig. Die beginnende chronische Quecksilbervergiftung ist unter ihnen nicht selten, bei den älteren wahrscheinlich sogar recht häufig. Dies zeigen mir zugegangene Mitteilungen, und es ergibt sich auch aus dem Schrifttum.

Beispielsweise schrieb Dr. J.Löwy 10) in einem Aufsatz über die Berufskrankheiten der Ärzte, und zwar vor Erscheinen meiner Mitteilung über die Gefährlichkeit des Quecksilbers: Durch Quecksilber sind auch die Zahnärzte gefährdet . . . wenn auch nicht Erscheinungen akuter Quecksilbervergiftung . . ., so werden doch allgemeine Mattigkeit, Arbeitsunlust, leichte Ermüdbarkeit, erhöhte Reizbarkeit, Schreckhaftigkeit, Schlaflosigkeit, allmähliche Abnahme der physischen Leistungen sehr wahrscheinlich auf eine latente chronische Intoxikation mit Quecksilber zurückzuführen sein. Und Dr. M.Jarecki 11), selbst Zahnarzt, meint: . . . nach den Harnuntersuchungsergebnissen von Schulte 12) scheint es mir doch einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit zu haben, daß die überaus große Nervosität so vieler Zahnärzte in dieser schleichenden Quecksilberdampf-Vergiftung ihre Ursache hat. Der hier geäußerten Ansicht muß man sich anschließen, wenn man an unsere eigenen Erfahrungen denkt.

Sofern die Zahnärzte überhaupt weiter Amalgame verwenden, sollten sie, um sich nicht zu gefährden, viel vorsichtiger sein als bisher. Zum Gerät des Behandlungszimmers müßte eine einfache ins Freie führende Abzugsvorrichtung gehören (mit einem kleinen elektrischen Ventilator ist sie leicht zu schaffen), unter der alle Hantierungen mit Quecksilber und Amalgam vorzunehmen sind. Selbstverständlich dürfen Reste von Quecksilber und Amalgam nur dicht verstöpselt aufgehoben werden.

Was die Schädlichkeit der Amalgamfüllungen für die Träger betrifft, so besteht zweifellos ein großer Unterschied zwischen Kupfer- und Silberamalgam (und den Abarten des letzteren).

Das Kupferamalgam erfährt im Munde eine starke Zersetzung; es wird allmählich mürbe und bröckelig, gibt Kupfer und Kupferverbindungen ab, indem gleichzeitig metallisches Quecksilber, oft in Form sichtbarer Tröpfchen, frei wird, und zerfällt und verschwindet im Laufe der Zeit. Wie es scheint, findet das Kupferamalgam heute in den Fachkreisen keinen Verteidiger mehr, obwohl es zur Zeit seiner Einführung ‒ auch wegen seiner angeblich desinfizierenden Eigenschaften! ‒ hoch gepriesen wurde.

In einer Aussprache, die sich in der Sitzung des Provinzial-Vereins Brandenburger Zahnärzte am 5. Juni ds. J. mit der Amalgamfrage beschäftigte, hörte ich zu meinem Erstaunen, wie erste wissenschaftliche Vertreter der Zahnheilkunde äußerten, vom Kupferamalgam wolle man gar nicht sprechen. Der bekannte Würzburger Pharmakologe F.Flury schrieb kürzlich 13) von den alten binären Kupferamalgamen, deren unzweckmäßige Zusammensetzung zur Bildung von Quecksilbertröpfchen Anlaß geben kann, und von den anerkannt mangelhaften Kupferamalgamen.

Dieses anerkannt mangelhafte Kupferamalgam wird heute aber in Deutschland noch in größtem Umfange, in der Krankenkassenpraxis sogar weit überwiegend, als Zahnfüllmittel benutzt, nur weil es billig und besonders bequem in der Verarbeitung ist. Man fragt sich: ist so etwas möglich? und muß dringend wünschen, daß sich zuständige Stellen. z. B. das Reichsgesundheitsamt, dieser Angelegenheit schleunigst annehmen.

Die Silberamalgame sind beständiger und mechanisch wie chemisch haltbarer. Doch auch sie unterliegen im Munde einer langsamen Veränderung, indem ihre Oberfläche angegriffen, rauh rissig und bröckelig wird, wovon man sich bei mikroskopischer Betrachtung älterer Füllungen leicht überzeugen kann. Es werden also im Laufe der Zeit immer neue Amalgamschichten freigelegt 14). Frisch hergestellte Amalgame lassen zunächst viel Quecksilber abdunsten. Aber auch nach längerer Lagerung und nach langem Verweilen im Munde geben die Silberamalgame, wenigstens in der Beschaffenheit, wie sie die Praxis verwendet, erhebliche Mengen Quecksilber in Dampfform ab.

Diesbezügliche Versuche haben wir selbst vorgenommen und beschrieben 15). Die Füllungen wurden in Glasrohren im Vakuum drei Tage auf 30o, also unter Mundtemperatur, erwärmt; das im kälteren Teile des Glasgefäßes kondensierte Quecksilber wurde gewogen. Hier seien nur einige Ergebnisse erwähnt, die wir mit Silberamalgamfüllungen erzielten, welche sich noch im gezogenen Zahn befanden:

  1. Drei große Füllungen (zusammen 300 qmm freie Oberfläche) in zwei Zähnen gaben 150 mg Quecksilber ab, eine überraschend große Menge;
  2. eine recht gut aussehende Füllung (70 qmm) verlor 1,3 mg und
  3. eine nur 25 qmm große, besonders glatt und blank aussehende Füllung auch noch über 0,1 mg Quecksilber.

Nun herrschen im Mund andere Verhältnisse als bei diesen Laboratoriumsversuchen. Glücklicherweise! Denn würden dort ähnliche Quecksilbermengen abgegeben, so müßten schwerste Erkrankungen und Todesfälle die Folge sein. Das Fehlen des Vakuums, die Benetzung mancher Füllungen mit Speichel werden das Verdampfen des Quecksilbers verlangsamen. Andererseits fehlt es im Mund auch nicht an Umständen, welche die Zerstörung der Füllungen begünstigen, wie z. B. die mechanische Beanspruchung beim Kauen oder die chemische Einwirkung des Speichels und der Speisen. Es ist zu bedenken, daß schon Hundertstel, ja selbst (im Vergleich zu Versuch 1) Zehntausendstel der bei unseren Versuchen verdampften Quecksilbermengen bei jahrelanger Einwirkung imstande sind, Gesundheitsstörungen hervorzurufen. Aus obigen Versuchen folgt unzweifelhaft: auch in den alten Amalgamfüllungen besitzt das Quecksilber merkliche Dampfspannung und Flüchtigkeit.

Dies wird durch folgenden Versuch bestätigt, den wir mit einem jüngeren Mitarbeiter unseres Institutes, Dr. D., anstellten:

D. hat etwa ein Dutzend gut aussehender Füllungen in seinem stets in Ordnung gehaltenen Gebiß, fast nur Silberamalgamfüllungen; vielleicht bestehen eine oder zwei aus Kupferamalgam. Wir ließen ihn ein Glasrohr zwischen die fest geschlossenen Lippen nehmen und saugten durch dieses im Laufe von 6 Stunden etwa 400 Liter Luft ab, die durch die Nase zuströmten. Die Luft wurde durch flüssige Luft geleitet und das Kondensat auf Quecksilber in der früher beschriebenen Weise untersucht. Ergebnis: schwache, aber sichere Quecksilberreaktion. Von der Quecksilberfreiheit der Zimmerluft überzeugten wir uns natürlich durch einen Gegenversuch. Es sei hervorgehoben, daß an den Füllungen des Dr. D. seit 3 Jahren nichts gemacht worden war. Nach Abschluß dieses Versuches ließ sich D. eine neue Silberamalgamfüllung einsetzen. Als wir den Versuch 4 Tage danach wiederholten, fiel die Quecksilberreaktion wesentlich stärker aus. Quantitativ vermögen auch derartige Versuche nicht viel zu sagen, weil natürlich nur der kleinste Teil des Luftstromes mit den Zahnfüllungen in Berührung kommt und weil auch der Speichel besonders reichlich fließt, sobald man einen Fremdkörper wie das Glasrohr im Mund hat. Qualitativ aber ist das Ergebnis recht überzeugend.

Übrigens soll keineswegs gesagt sein, daß Amalgamfüllungen ausschließlich oder auch nur hauptsächlich durch verdampfendes Quecksilber und auf dem Wege durch die Lungen schädlich wirken können. Auch das bei der allmählichen Zerstörung der Füllungen in feinster, wohl fast atomistischer Verteilung dauernd in die Verdauungswege gelangende Quecksilber dürfte in ähnlicher Weise vom Körper aufgenommen werden wie das eingeatmete. Die bekannte Tatsache, daß große Quecksilbermengen in kompakter Form verschluckt werden können und ohne Schädigung durch den Körper hindurchgehen, spricht angesichts der ungeheuren Verschiedenheit der Quecksilberoberflächen nicht gegen diese Annahme.

Als ich in meiner ersten Veröffentlichung auf die Möglichkeit der Gefährdung durch Amalgamfüllungen hinwies, erhob sich als-


10) J.Löwy, M. Kl. 1926, S. 608.

11) M.Jarecki, Zahnärztl. Rundschau 1926, 35, 327.

12) Der im Harn fast aller untersuchten Zahnärzte erhebliche Mengen Quecksilber nachgewiesen hatte.

13) F.Flury, M. m. W. 1926, 73, 1022.

14) Wie betont sei gegenüber der Vermutung von F.Gradenwitz (Zschr. f. angew. Chemie 1926, 89, 789), daß sich nach Verdampfen von Quecksilber eine haltbare quecksilberärmere Oberfläche bilde.

15) Zschr. f. angew. Chemie 1926, 39, 465 und 791.

 

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bald ein Sturm der Entrüstung und des Widerspruches in weiten Kreisen der Zahnärzteschaft 16). Bei Millionen, die Amalgamfüllungen tragen, sei noch niemals eine Quecksilbervergiftung beobachtet worden! Andere meinten, bei den ganz vereinzelten Fällen von Schädigung durch das Quecksilber der Amalgame handele es sich um ,,Idiosynkrasien". Was heißt Idiosynkrasie? Doch nichts anderes als: große Empfindlichkeit gegenüber Quecksilber. Nun zeigen unsere Beobachtungen aber deutlich, daß sehr viele, wahrscheinlich die allermeisten Menschen gegen Quecksilber überaus empfindlich sind. Also kann man die Quecksilber-Idiosynkrasie nicht einfach beiseite schieben.

Die Zahnärzte selbst sind selten in der Lage, allgemeine Wirkungen der Amalgamfüllungen zu erkennen oder auch nur zu erfahren. Wenn die Patienten an Nervosität, geistiger Mattigkeit, Katarrhen u. dgl. leiden, wenden sie sich nicht an den Zahnarzt, zu dem sie übrigens gewöhnlich über ihre Beschwerden schon deshalb nicht reden, weil sie bei der Behandlung am Sprechen verhindert sind. Die Ärzte, Hausärzte, Nervenärzte, Nasenärzte, Internisten, sind die gegebenen Beurteiler dieser Fragen.

Die Zahnärzte, die die Amalgame als harmlos hinzustellen suchen, vergessen auch ganz, welche starke Gegnerschaft die Amalgame in den Reihen der Ärzte und der Zahnärzte selbst von Anfang an gefunden haben und noch heute finden.

Nur zwei Stimmen aus jüngster Zeit:

Dr. P.Windmüller 17): ,,Jeder aufmerksame Arzt und ganz besonders Zahnarzt hat im Laufe seiner Praxis zweifelsohne Gelegenheit zu beobachten, daß das Zahnfleisch unter Amalgamberührung an den betreffenden Stellen die Zahnhälse nicht mehr fest umschließt . . . Wenn auch die Mehrzahl der mit Amalgam bedachten Patienten keine nachweisbaren Störungen ihrer Gesundheit hat, so ist solcher Nichtnachweis der Schädigung noch lange kein Beweis für die Neutralität des Amalgamfüllungsmaterials. Werden von zahnärztlicher Seite bei Patienten mit manchen Allgemeinbeschwerden rechtzeitig die Amalgamfüllungen entfernt und die Zähne mit indifferenten Stoffen gefüllt, so schwinden die Beschwerden in verhältnismäßig kurzer Zeit".

Dr. Lichtwarck 18): ,,Schon seit langem ist mir in der Praxis der ungünstige Einfluß des Quecksilbers bei Kupferamalgamfüllungen aufgefallen. Kupferamalgamblomben werden von mir seit vielen Jahren nicht mehr gelegt. Es ließe sich eine beträchtliche Anzahl von Fällen aus meiner Praxis aufführen, in denen ich als Ursache für Kopfschmerz, Unbehagen, Übelkeit, lästigen Speichelfluß, neurasthenische Erscheinungen Magenbeschwerden das Vorhandensein von Kupferfüllungen annahm und nach Entfernung . . . eine spontane Abstellung der Beschwerden erzielte".

Ein Deutsch-Amerikaner schreibt mir aus New York, daß die dortigen Zahnärzte seit Jahren kein Amalgam mehr verwenden. Er fügt hinzu, ein Widerspruch der deutschen Zahnärzte gegen die Warnungen vor den Amalgamen ,,würde seines Erachtens deren wirkliches Können in den Augen der hiesigen berühmten Zahnärzte sehr herabsetzen". In welchem Umfange diese Angaben gelten, entzieht sich natürlich meiner Kenntnis.

Wenn man weiß, daß schon außerordentlich kleine Quecksilbermengen den Menschen schädigen und daß die Amalgamfüllungen dauernd Quecksilber an den Körper abgeben, so muß man von der Bedenklichkeit der Amalgamfüllungen von vornherein überzeugt sein. Die Richtigkeit dieser Auffassung wurde mir durch zahlreiche Mitteilungen bestätigt, die mir auf Grund meiner Veröffentlichungen zugingen.

Einen Fall will ich wegen seiner Bedeutung für die Beurteilung der Angelegenheit hier ausführlicher behandeln. Er betrifft den bekannten, heute wieder in voller Frische wirkenden Ordinarius der Psychologie an der Universität Marburg Prof. Dr. E.Jaensch. Aus dem Bericht, den mir Prof. Jaensch über seine Erfahrungen mit Amalgamfüllungen machte und dessen Veröffentlichung er mir freundlicherweise gestattete, seien Bruchstücke wörtlich mitgeteilt:

Sie erwerben sich ein Verdienst um die Menschheit, wenn Sie die Frage der Amalgamplomben ins Rollen bringen.

Im Alter von etwa 15 Jahren wurden mir, wie man zu sagen pflegte, ,,die Zähne in Ordnung gebracht". . . Plomben in größerer Zahl . . . Allmählich stellten sich Dauerbeschwerden ein, die zunächst auf das Nervensystem beschränkt blieben . . . Da ich - wohl infolge der anfänglichen Lokalisation der Erscheinungen im Nervensystem - zunächst gesund und blühend aussah . . . wurde das Zustandsbild als hypochondrische Neurasthenie angesehen . . . Gegen Schluß meiner Studienzeit wieder deutliche und jetzt auch körperlich stark ausgeprägte Erscheinungen, die sich von Jahr zu Jahr verschlimmerten. Der Anfang der Verschlimmerung fiel zeitlich zusammen mit einem abermaligen größeren und besonders unzweckmäßigen zahnärztlichen Eingriff. Ich hatte vorwiegend sog. Konturfüllungen, d.h. an den Rand des Zahnes reichende Plomben. Ein angesehener Zahnarzt sagte mir nun, man müsse, damit nichts mehr passieren könne, die benachbarten Konturfüllungen der Backzähne miteinander verbinden, und er stellte mir dementsprechend zwischen letzteren feste Verbindungen her . . . Von 1909 ab verschlimmerte sich mein Zustand fortgesetzt . . . chronische, sich immer steigernde Diarrhöen. Im Zeitraum von 1912 bis 1916 hatte ich meistens 10 und mehr Entleerungen am Tage, und es ist verständlich, daß ich dabei aufs äußerste abmagerte. Dazu . . . heftige Schmerzen an allen Teilen des Körpers . . . Schlaf immer mehr eingeschränkt . . . Mundentzündung mit Speichelfluß . . . verschlimmerte sich der Katarrh der oberen Luftwege, besonders des Rachens . . . quälende asthmatische Zustände . . . starke Beängstigungen, Verfall der körperlichen Kräfte, so daß ich das Bett immer nur für kurze Zeiten verlassen konnte . . . gänzliche Aufhebung der geistigen Leistungsfähigkeit . . .

Ich war schon seit einem Jahre beurlaubt und lebte nach vergeblichem Umherirren bei ärztlichen Autoritäten in hoffnungsloser Resignation in Baden-Baden, als ich dort im Sommer 1916 mit dem mir von früher her bekannten Prof. Sommer aus Gießen zusammentraf. Ich erzählte ihm von meinem Zustand und auch von einem Einfall, der mir gerade kurz vorher gekommen war. Ich hatte Zahnschmerzen gehabt und mir mein Gebiß mit seinen 24 zum Teil sehr großen Amalgamfüllungen im Spiegel betrachtet. Dabei war mir eine Bemerkung eingefallen, die ich öfter von meinen Ärzten gehört hatte . . . Ich erwog . . . auch fernliegende Möglichkeiten, u. a. die, daß ich mir durch den Umgang mit Akkumulatoren . . . eine Bleivergiftung zugezogen haben könnte. Darauf war mir von den Ärzten immer etwa folgendes gesagt worden: ,,Eine Bleivergiftung haben Sie sicher nicht. Eher sehen die Erscheinungen nach einer Quecksilbervergiftung aus. Aber eine solche ist unmöglich; wie sollen Sie denn dazu kommen!" Als ich nun die großen Mengen von Amalgam in meinem Mund betrachtete, kam mir der Gedanke, sollte es vielleicht doch eine Quecksilbervergiftung sein? Sommer sagte mir daraufhin, daß er über ein nicht unerhebliches Material ähnlicher Fälle verfüge, in denen sich das rätselhafte Krankheitsbild bei genauerer Untersuchung als eine toxische Polyneuritis . . . herausstellte . . . Untersuchung des Urins und Speichels auf Quecksilber . . . Die chemische und klinische Untersuchung ergab einen Befund, der in dem beiliegenden Gutachten Sommers geschildert ist 19). Nun aber standen wir vor der fast unmöglichen Aufgabe, einen Zahnarzt zur Herausnahme und Ersetzung der Plomben zu bestimmen. Immer wieder wurde ich abgewiesen, überall wurde mir entgegengehalten, daß die Unschädlichkeit der Amalgamplomben erwiesen sei, daß man darum dem Sommerschen Gutachten keinen Glauben schenken und die Durchführung einer so großen ,,unnötigen" Operation vom zahnärztlichen Standpunkt nicht verantworten könne . . . Hofzahnarzt X. z. B. sagte mir: ,,Sie können mir alle ärztlichen Autoritäten der Welt schicken, ich glaube das nicht". Und das alles, weil Witzel, der hauptsächlich für die Amalgamplomben, z. T. gegen den heftigen Widerstand der älteren Zahnärzte, eingetreten war, angeblich die ,,Unschädlichkeit" dieser Maßnahme bewiesen hatte. Als ich mir die Schriften Witzels kommen ließ, erschrak ich über die Leichtfertigkeit dieser Beweisführung . . .

Es hätte sich wohl kaum ein Zahnarzt zur Durchführung des Plombenersatzes herbeigelassen, wenn nicht Prof. Binswanger einen ihm nahestehenden Professor der Zahnheilkunde hierum ausdrücklich gebeten hätte. Während des Herausbohrens der umfangreichen Plomben . . . zunächst verstärkte Erscheinungen . . . Als wir dann im weiteren Verlauf . . . den Amalgamstaub absaugten, blieben die Erscheinungen aus. Unmittelbar nach Herausnahme der Amalgamfüllungen setzte, namentlich im Hinblick auf die Durchfälle, eine ganz erhebliche Besserung ein, wenn dann auch der weitere Fortschritt der Genesung . . . nur ein langsamer war . . . so bildete doch der Zeitpunkt der Plombenherausnahme den Wendepunkt, von dem an alle Erscheinungen, im Bereich der Verdauungs- und Atmungsorgane wie des Nervensystems, sich stetig zurückbildeten, so daß ich eigentlich überhaupt erst seit dieser Zeit weiß, was Leben heißt . . .

Geholfen hat mir, nach der Ersetzung der Amalgam- durch Goldplomben, im wesentlichen die Zeit, alles andere nur in geringem Maße ...

Wie viele mögen in ähnlicher Weise, wenn auch in geringerem Maße leiden, und wie viele derartige Zustände mögen dauernd unerkannt bleiben!

Prof. Jaenschs ergreifender Schilderung braucht nichts hinzugefügt zu werden. Sie deckt sich großenteils mit den Erfahrungen, die wir selbst leider machen mußten.

Dieser schlimme Fall ist durchaus nicht vereinzelt. Dr. W., Chemiker, schreibt mir:

,,Als ich Ihre Mitteilung in der Zeitschrift


16) Vgl. z. B.: P. R i t t e r, Zahnärztl. Rundschau 1926, 35, 415.

17) P. W i n d m ü l l e r, Die Umschau 1926, 30, 479.

18) L i c h t w a r c k, Zahnärztl. Rundschau 1926, 35, 363.

19) In diesem Gutachten vom 28. Juni 1916 heißt es u. a.: Im Harn war Quecksilber in erheblicher Menge vorhanden . . . - Im Sputum war Quecksilber mit Sicherheit nicht nachweisbar . . . - Als Quelle des Quecksilbers im Urin erscheinen die zahlreichen Amalgamplomben, die der Patient seit längerer Zeit in seinen Zähnen hat. Die Vorgeschichte paßt durchaus zu der Annahme einer toxischen Erkrankung durch Quecksilber.

 

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für angewandte Chemie las, fand ich ... das Krankheitsbild meiner (37 jährigen) Frau sozusagen in allen Einzelheiten geschildert ... starke Katarrhe des Nasenrachenraumes ... Kopfschmerzen und bis zu gelegentlichen Ohnmachten gesteigertes Schwindelgefühl ... Verstopfungen der Nase ... Schmerzen über den Augen 20) ... Krankheitsbild in den letzten beiden Jahren besorgniserregend durch die seelischen Depressionszustände, welche zu den sich immer mehr steigernden körperlichen Beschwerden (Neuralgien in Gesicht und Kopf, krampfartige Schmerzen in der Lebergegend) hinzukamen . . . 11 Amalgamplomben (die älteren und größten aus Kupferamalgam) . . . Die Plomben wurden sofort entfernt . . . Dabei zeigte sich, daß sie z. T. in einem sehr schlechten Zustand waren; besonders die aus Kupferamalgam bestehende Füllung des Weisheitszahnes war bröckelig und total verfärbt. . . . Zweifelsfrei sind seitdem verschwunden die schlimmsten Erscheinungen des Nasenrachenraumes, die Erscheinungen am Zahnfleisch, die Neuralgien und Schmerzen an der Leber . . . ,,Die geistig-seelischen Depressionen haben sich auch fortschreitend gebessert; es besteht hierüber kein Zweifel, wenn auch hier die Gesundung langsamer geht als bei den vorgenannten Störungen."

Einen ganz ähnlichen Fall bei einer 48jährigen Patientin beschreibt Dr. Lichtwarck 21):

Mattigkeit, Schlaflosigkeit, Gereiztheit, Ohrensausen, Übelkeit usw. bis zu einem Selbstmordversuch. Vergebliche Behandlung durch Nerven- und Magenspezialisten, bis nach Entfernen einer großen Amalgamfüllung mit Goldkrone 22) zusehends Besserung bis zu restloser Heilung eintrat.

Im Schrifttum finden sich noch manche derartige Fälle beschrieben. Mir sind auch verschiedene aus meinem Bekanntenkreise zu Ohren gekommen, die ganz augenscheinlich ähnlich liegen 23).

Die Beschwerden brauchen natürlich nicht immer so schwer zu sein. Einer meiner Fakultätskollegen, der an gelegentlich auftretenden leichten Benommenheiten und Kopfschmerzen litt, verlor diese, nachdem ihm eine Amalgamfüllung, die am benachbarten Zahnfleisch Entzündungen verursachte, herausgenommen worden war.

Die Wirkung des Amalgams wird je nach Zahl, Beschaffenheit und Lage der Füllungen alle Stufen durchlaufen, von den krassesten Fällen geistiger und körperlicher Zerrüttung bis zu schwachen, kaum wahrnehmbaren Beschwerden oder vom Betroffenen selbst nicht mehr empfundenen Folgen (Herabsetzung der geistigen Leistung). Auf einen schweren Fall werden Hunderte, vielleicht Tausende oder Zehntausende der leichtesten kommen. Aufmerksame ärztliche Beobachtung, die auf die Zusammenhänge zwischen den Amalgamfüllungen und den Erscheinungen der chronischen Quecksilbervergiftung achtet, dürfte bald wertvolles Material zu Tage bringen. Daß solche Zusammenhänge in erheblichem, wahrscheinlich überraschend großem Umfange bestehen, erscheint mir nach den Berichten, die man mir aus freien Stücken zukommen ließ, sicher. Immer wieder wird mitgeteilt, daß nach Anlegung von Amalgamfüllungen allmählich bis dahin unbekannte Beschwerden einsetzten: Benommenheit, Schwindel, Zahnfleischbluten, dauernde Schnupfen und Katarrhe (als deren Sitz fast stets der Nasenrachenraum angegeben wird) usw. In Fällen, in denen die Amalgamfüllungen durch Ziehen oder Ausfallen der betreffenden Zähne entfernt wurden, sind auch die Beschwerden langsam wieder verschwunden.

Es wäre wünschenswert, wenn das Beobachtungsmaterial einer sachverständigen Stelle zugeführt und dort gesichtet würde, damit man volle Klarheit über den Umfang des Schadens gewinnt, den die Amalgamfüllungen anrichten.

Die Erkennung der ersten Anfänge einer chronischen Quecksilbervergiftung ist nicht einfach, weil die zunächst rein geistigen und nervösen Erscheinungen so wenig spezifisch sind 24). Sie gewinnt an Zuverlässigkeit, sobald auch chronische Schnupfen und Katarrhe, Mundbeschwerden (Bläschen, blutendes Zahnfleisch, lose Zähne), Durchfälle und dgl. auftreten. Das Überzeugendste ist natürlich der Nachweis des Quecksilbers im Speichel oder Harn; er erfordert bei sehr kleinen Mengen Quecksilber eine gewisse Übung und Geschicklichkeit 25). Wie schon erwähnt, sind übrigens die Ausscheidungen oft vorübergehend quecksilberfrei, obwohl Quecksilbervergiftung vorliegt und Quecksilber im Körper vorhanden ist.

Bei den mir bekannt gewordenen schweren Fällen handelt es sich wohl meistens um Kupferamalgamfüllungen. Wie weit die Schädigungen durch Silberamalgamfüllungen in der Praxis gehen, muß ein ausgedehntes Beobachtungmaterial ergeben. Die Möglichkeit zu solchen Schädigungen liegt durchaus vor, da auch die Silberamalgame Quecksilbermengen von einer Größenordnung verlieren, die bei der außerordentlichen Empfindlichkeit vieler Menschen gegen Quecksilber gefährlich ist.

Auf jeden Fall sollte die Zahnheilkunde, mit Rücksicht auf die Patienten wie auf die Zahnärzte selbst, alle Anstrengungen machen, um ein harmloses Zahnfüllmittel zu finden, das so billig ist, die Zahnhöhlungen so gut ausfüllt und sich so leicht und schnell verarbeiten läßt wie Amalgam.

Selbstverständlich halte ich nicht für nötig, nun sämtliche, auch die unbedeutendsten Amalgamfüllungen zu entfernen oder herauszureißen; was ich einem Kritiker 26) zufolge befürwortet haben soll, aber in Wirklichkeit niemals gesagt habe. Doch muß man jedem, der aus anderen Gründen an einer Quecksilbervergiftung leidet oder der Beschwerden hat, die auf Quecksilbervergiftung deuten und für die keine andere Ursache zu erkennen ist, dringend empfehlen, sich die Amalgamfüllungen, vor allem Kupferamalgamfüllungen herausnehmen zu lassen. Wer es sich leisten kann, sollte sich und seinen Kindern 27) keine Amalgamfüllungen mehr machen lassen. Eine Gefahrenquelle sind diese immer. Man weiß nie voraus, wie empfindlich der Träger gegenüber dem Quecksilber ist.

Beim Herausbohren der Amalgamfüllungen muß der Zahnarzt äußerst vorsichtig verfahren, damit der feine Amalgamstaub vom Patienten nicht eingeatmet oder hinuntergeschluckt wird. Sonst können, wie ich an mir selbst erfuhr und wie mir von anderen bestätigt wurde, starke Beschwerden und eine deutliche Verstärkung der Vergiftungserscheinungen auftreten. Auch Prof. Jaensch hat, wie oben berichtet, dieselbe Beobachtung machen müssen. Es dürfte sich sehr empfehlen, seinem Beispiele zu folgen und den unvermeidlichen Amalgamstaub während des Bohrens durch Absaugen zu entfernen.

Auch nach Beseitigung sämtlicher Amalgamfüllungen wird die Gesundung meist recht lange Zeit erfordern. Häufige Rückfälle stellen die Geduld auf eine hohe Probe und bewirken immer wieder Niedergedrücktheit und Kleinmut. Besonders die nervöse Unruhe und Gereiztheit weichen sehr langsam.

Die hier erörterten wichtigen Fragen verdienen die Aufmerksamkeit aller Ärzte. Vielleicht wird es sich als wünschenswert herausstellen, daß das Reichsgesundheitsamt durch Herausgabe eines Quecksilber-Merkblattes, ähnlich seinem Blei-Merkblatt, für Aufklärung sorgt. Den Kampf gegen das Kupferamalgam als Zahnfüllmittel sollte es unverzüglich aufnehmen. Er wird von Zahnärzten selbst herbeigesehnt 28).

 


Anmerkung.

Die Erörterung des Stock'schen Vortrags in ärztlichen und zahnärztlichen Kreisen hat ergeben, daß es notwendig ist, zu ermitteln, ob nachweislich eine Schädigung durch chronische Quecksilbervergiftung, namentlich durch Amalgamfüllungen in den Zähnen vorkommt. Es soll daher eine Stelle geschaffen werden, an der Kranke, die an Quecksilbervergiftung zu leiden glauben, genau untersucht werden können, sowohl auf ihre Beschwerden, wie auf die Beschaffenheit ihrer Zahnfüllungen und auf die Anwesenheit von Quecksilber im Harn. Es wird an der 1. Medizinischen Poliklinik für solche Kranke eine Sondersprechstunde eingeführt werden, in der ein Internist und ein Zahnarzt zugegen sind, und es wird Vorkehrung getroffen, den Urin der Kranken nach der von Prof. Stock ausgearbeiteten Methode auf Quecksilberspuren zu untersuchen. Die Organisation dieser Untersuchungs- und Beratungsstelle wird einige Wochen in Anspruch nehmen; voraussichtlich wird sie Anfang Oktober eröffnet und die Ärzteschaft rechtzeitig davon unterrichtet werden. W.His


20) Vom Arzte zunächst als Stirnhöhlenentzündung gedeutet.

21) Lichtwarck, Zahnärztl. Rundschau 1926, 35, 363.

22) Amalgam und Gold nebeneinander sind wegen der dabei im Munde auftretenden elektrolytischen Zersetzungsvorgänge besonders gefährlich und zu vermeiden; vgl. z. B. Dr. G.Haber, Zahnärztl. Rundschau 1926, 35, 395.

23) Bei zweien von ihnen, wo wir den Harn untersuchten, erwies sich dieser in der Tat als quecksilberhaltig.

24) Sie treten (mit Ausnahme der Munderscheinungen) ganz ähnlich bei anderen chronischen Vergiftungen, z. B. durch Arsen oder Schwefelwasserstoff, auf.

25) Das chemische Untersuchungslaboratorium Dr. A. Buss, Berlin SW 47, Großbeerenstr. 31, hat sich bereit erklärt, Quecksilberbestimmungen nach den von uns erprobten Verfahren auszuführen.

26) G.Pinkus, Zschr. f. angew. Chemie 1926, 39, 787.

27) Bei den Milchzähnen besteht vielleicht kein Bedenken gegen kleine Silberamalgamfüllungen, da diese mit den Zähnen wieder verschwinden.

28) Vergl. den Aufsatz Kupferamalgam über Bord! von Dr. A.Werkenthin (Zahnärztl. Rundschau 1926, 35, 451).